Ist der Anarchismus für alle Zeit tot – oder kommt seine Zeit erst noch?
Ist der Anarchismus für alle Zeit tot – oder kommt seine Zeit erst noch?

Ist der Anarchismus für alle Zeit tot – oder kommt seine Zeit erst noch?

Wer Herrschaft von Menschen über Menschen beschränken und wahre Freiheit für das Individuum will, ist ein Mensch mit einer großartigen Idee, die eins Anarchismus nennt. Die Wurzeln des deutschen Anarchismus reichen bis in die 1840er Jahre zurück, als Bruno und Edgar Bauer mit der Berliner Monatsschrift die erste anarchistische Zeitschrift in Deutschland herausgaben. 1890 entfaltete sich die Idee zu einer breitgefächerten Geistes- und Kulturbewegung mit starken Einflüssen auf die Arbeiterbewegung bis 1933. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde die anarchistische Bewegung verfolgt, zerschlagen und ihre Mitglieder, die nicht ins Exil flüchteten, in Konzentrationslagern ermordet.

Von 1947 bis 1970 bildete in der Bundesrepublik Deutschland die „Föderation freiheitlicher Sozialisten“, deren Wurzeln bis 1901 zurück reichen, die stabilste und größte anarchistische Organisation. Im Zuge der außerparlamentarischen Opposition konstituierte sich der Anarchismus in der Bundesrepublik und in Westberlin neu. Mit der Studentenbewegung Ende der 60er Jahre stieg das öffentliche Interesse am Anarchismus. Auch im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), der sich zum Sammelbecken der gesamten Bewegung entwickelte, waren Anarchisten vertreten. Des Weiteren hatte der Anarchismus für die Neuen sozialen Bewegungen (NSB) eine theoretische und praktische Bedeutung. 1974 kam es zu einer Neugründung der erstmals 1931 gegründeten Mackay-Gesellschaft. Sie brachte den individualistischen Anarchismus innerhalb der libertären Bewegung erneut zur Diskussion.

Innerhalb der Autonomen, als linksradikalem Flügel der NSB, gab und gibt es eine große libertäre Strömung. Eine bundesweite anarchopazifistisch dominierte Organisation war die von 1980 bis in die 1990er bestehende Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen, die über Jahre hinweg die bis heute erscheinende Zeitschrift Graswurzelrevolution herausgibt.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Krisen des kapitalistischen Systems – Klimakatastrophe, Abkoppelung der Finanzmärkte von der Politik, Soziale Spaltung – , ist es zu erwarten, dass insbesondere in Europa die Zeit reif ist für eine neue Systemdebatte, die auch die Ideen des Anarchismus wieder in den Fokus rücken wird. Vor allem dann, wenn es ihm gelingt, den Nachweis zu erbringen, dass Anarchie eine menschengerechte Lebensform ist, wie es Bernd Drücke, Koordinationsredakteur der Graswurzelrevolution, nachfolgend in einem, wie wir meinen, zeitlosen Interview meint. Das Interview wurde erstmals veröffentlicht im Buch: Anarchismus Hoch 2. (Vorspann: Rainer Thiem, Peira)

„Anarchie ist eine menschengerechte Lebensform“

Sören Weber und Maurice W. im Gespräch mit Bernd Drücke

Im folgenden Gespräch mit den Bloggern Sören Weber (herrschaftsfrei.org) und Maurice W. (netz-betrieb.de) stellt Bernd Drücke (* 24.12.1965) seine Sicht des Anarchismus dar.1 Dabei erläutert der promovierte Soziologe und Redakteur der Monatszeitung Graswurzelrevolution (GWR; www.graswurzel.net) grundlegende Konzepte des Anarchismus, geht auf Auswirkungen von Herrschaft ein und zeigt historische Parallelen auf.

Sören Weber: Was ist die Essenz des Anarchismus? Was ist die Gesellschaftsbewegung dahinter?

Bernd Drücke: Der Anarchismus ist eine sozialrevolutionäre Bewegung, die sich für eine herrschaftsfreie, meiner Meinung nach auch gewaltfreie Gesellschaft einsetzt. Im Anarchismus schließen sich die Menschen freiwillig, selbstbestimmt und föderal in Kollektiven zusammen. Beispielsweise in Kommunen, Wohnprojekten, Genossenschaften und Syndikaten, welche dann als Basis für Produktion und Reproduktion dienen. Als soziale Bewegung ist der Anarchismus erst im 19. Jahrhundert entstanden.

Der Begriff „Anarchie“ ist aber wesentlich älter. Er stammt aus der griechischen Antike und bedeutet „ohne Herrschaft“, nicht Chaos und Terror. Anar­chie, das ist eine Gesellschaft, die nicht hierarchisch, sondern egalitär organi­siert ist. Es ist ein Leben ohne Chef und Staat. Das heißt auch, dass, anders als im jetzigen kapitalistischen System, nicht das Prinzip der Konkurrenz und der Kampf aller gegen alle bestimmend ist, sondern ganz im Gegenteil die Gegenseitige Hilfe und die Freie Assoziation. Nicht „Regellosigkeit“, wie viele denken, sondern die freie Föderation und die Solidarität stehen im Mittelpunkt einer anarchistischen Ethik. Und die Ablehnung von Herrschaft und autoritärem Zwang.

Anarchistisch denkende Menschen wollen keine Überwachung, keine Zensur, sie wollen freie Kommunikation und Freiheit in allen Lebensbereichen. Sie wollen weder regiert werden noch regieren, sondern alle Staaten, alle systematischen Formen von Ungleichheit und ungerechten Autoritätsver­hältnissen abschaffen. Das Streben nach Freiheit und die Gegenseitige Hilfe entsprechen dem Menschen am ehesten. Sie spielen in der Geschichte und bei der Weiterentwicklung der Menschheit entscheidende Rollen.

Anarchie wird den Menschen gerecht. Sie können unter herrschaftsfreien Bedingungen wesentlich menschenfreundlicher und naturnäher leben als unter den Bedingungen einer auf Herrschaft aufgebauten Gesellschaft, sei sie nun kapitalistisch oder „realsozialistisch“. Herrschaftsstrukturen bewirken Krieg, Sexismus, Rassismus, Zerstörung von Menschen und Natur. Der Kapitalismus ist ein verbrecherisches System, das über Leichen geht. Denken wir an das Flüchtlingselend und die EU-Abschottungspolitik durch das Frontex-Regime. Mittlerweile sind Tausende Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen gestorben, allein 2008 waren es über 1.500. Die Menschen fliehen in der Regel vor den Folgen neokolonialer Politik und vor Kriegen, die mit Waffen aus Europa und den USA geführt werden.

Wir leben in einer Welt, in der mehr als eine Milliarde Menschen hungern, während gleichzeitig Überproduktion herrscht, in den kapitalistischen Metro­polen Unmengen an Lebensmitteln vernichtet, die Reichen reicher und die Armen ärmer werden. Das kapitalistische System dient den Eliten, nicht der Menschheit als solcher, es ist ein gnadenloses Klassengesellschaftssystem und begeht Raubbau an Mensch und Natur.

Wir brauchen stattdessen eine freiheitlich-sozialistische Gesellschaftsord­nung, die weltweit allen Menschen ein würdiges Leben ermöglicht. Und da ist der Anarchismus ein Weg und die Anarchie das Ziel. Es ist eine Utopie, aber durch Direkte gewaltfreie Aktionen, indem wir unser Leben ändern, jegliche Form von Ausbeutung und Terror direkt bekämpfen und anfangen, den Traum zu leben, beschreiten wir einen Weg zu ihrer Verwirklichung.

Sören Weber: Was sind für Dich die wichtigsten Ausprägungen des Herrschaftssystems, in dem wir leben?

Bernd Drücke: Das kapitalistische Wirtschaftssystem spielt eine ent­schei­dende Rolle. Es fördert rassistische, sexistische, homophobe und andere menschenfeindliche Ideologien und Handlungsweisen.

Auch Militarismus und die Militarisierung vieler Lebensbereiche sind grundlegende Säulen dieses Herrschaftssystems. Das wird häufig ausgeblendet. Dabei werden jährlich über 1,3 Billionen Dollar für Krieg und Militär ausgegeben. Der größte Waffenproduzent, die größte Militärmacht der Welt sind die USA. Die haben im letzten Jahr etwa 680 Milliarden Dollar dafür ausgegeben. Auch die Bundesrepublik ist maßgeblich an den kriegerischen Auseinandersetzungen, an Krieg und Zerstörung beteiligt. Einerseits durch Militär­­e­insätze wie in Afghanistan, im Kosovo und im Indischen Ozean, aber vor allem auch durch die Rüstungsexporte. Die Bundesrepublik ist nach den USA und Russland der drittgrößte Rüstungsexporteur der Welt. Diese verbrecherische Politik tötet Tausende Menschen. Daran ist Deutschland massiv beteiligt. Da müssen wir gegensteuern, dagegen müssen wir Druck machen, bis alle Waffenexporte gestoppt sind. Wir sind für die weltweite Abschaffung des Militärs, für eine staaten- und grenzenlose Welt, in der sich alle Menschen frei bewegen können. Auch das ist heute noch eine Utopie.

Sören Weber: Utopie ist an sich auch kein schlechter Begriff. Das ist etwas, was noch nicht da ist, aber werden kann. Es gibt verschiedene Schulen im Anarchismus. Du vertrittst beispielsweise die gewaltfreie Schule?

Bernd Drücke: Ja. Libertäre Utopien können ein Ansporn sein und uns Energie geben „für den Kampf ums Paradies“ auf Erden. Ganz im Sinne von „Ton Steine Scherben“. Aus meiner Sicht sollte sich die Utopie einer gewaltfreien, herrschaftslosen Gesellschaft schon im eigenen Handeln widerspiegeln. Wenn wir Gewalt anwenden würden, stünde das im Widerspruch zu unserem Ziel. Durch Gewalt, also alles, was Lebewesen gegen ihren Willen Schmerzen zufügt, erzeugt man neue Gewalt, aber keine Gewaltfreiheit.

Gewaltfreier Widerstand reicht von Aktionen des Zivilen Ungehorsams bis hin zu Direkten gewaltfreien Aktionen. Direkte gewaltfreie Aktionen, die sich gegen Herrschaft richten, sind unmittelbare Formen der Selbstbestimmung. Das heißt, dass graswurzelrevolutionäre Menschen auch Sabotage einsetzen können. Sabotage ist ein schöner Begriff. Er leitet sich vom französischen „le sabot“ ab, also dem Holzschuh. Das war der Holzschuh, den die Streikenden in die Maschinen geworfen haben, um sie zu stoppen. Sabotage ist in diesem Sinne also eine Direkte gewaltfreie Aktion. Beispiele dafür reichen von Blockaden, Streiks, phantasievoller Kommunikationsguerilla bis hin zu Aktionen, wo gentechnisch veränderte Pflanzen ausgerissen werden. Auch, wenn ich Naziplakate abreiße, ist das schon eine Direkte Aktion. Oder wenn beispiels­weise Biokartoffeln vor laufender Kamera auf ein Feld mit gentechnisch veränderten Kartoffeln geschleudert werden, um einen Gendreck-„Freilandversuch“ des Multis Monsanto zu verhindern, wenn sich Trainstopping-Aktive an die Gleise ketten, um Atomtransporte zu stören, oder wenn Menschen Sand in den Tank eines Panzers füllen und deshalb mit diesem Panzer keine Menschen mehr umgebracht werden können, dann ist das alles zwar nicht unbedingt legal, aber aus der Sicht von Graswurzelrevolu­tionärinnen und Anarchisten legitim und gewaltfrei.

Ein anderes Beispiel: Ende der 1980er Jahre stand in der Nähe von Heidel­berg noch immer ein kriegsverherr­lichendes Denkmal aus der Nazizeit, das Hitler als Ritter mit Schwert und Schild zeigte. In einer Nacht- und Nebelaktion sägten dann Antimilitaristen den Hitlerkopf ab und hängten ein Schild um den Rumpf des kopflosen Reiters: „Keine faschistischen Denkmäler!“ Menschen, die solche Direkten gewaltfreien Aktionen machen, handeln sozu­sagen schon so, als seien sie bereits frei und die Staatsgewalt würde nicht mehr existieren. Das ist sozialrevolutionär und kann untereinander Gefühle von Stärke und Solidarität bewirken.

Sören Weber: Gibt es auch Anarchisten, die den militärischen Aspekt anders sehen? Oder generell den gewalttätigen Aspekt, dass man sagt, man versucht, dieses System mit Gewalt umzustürzen, umzuwandeln?

Bernd Drücke: Das Klischee des anarchistischen Bombenlegers ist ein Zerrbild. Die meisten Anarchistinnen und Anarchisten sind der Meinung, dass man durch Direkte gewaltfreie Aktionen effektiven Widerstand leisten kann. Zum Beispiel durch den Generalstreik. Als im März 1920 der Kapp-Putsch stattfand, scheiterte dieser faschistische Putsch innerhalb von fünf Tagen, weil Sozialdemokratinnen, Sozialdemokraten, Kommunistinnen, Kommunisten, Anarchosyndikalistinnen, Anarchosyndikalisten und demokratisch gesinnte Arbeiterinnen und Arbeiter darauf mit einem umfassenden Generalstreik reagierten.

Es gibt auch viele andere Beispiele. Erfolgreich war hier der Widerstand gegen die lange Zeit übermächtig erscheinende Atomindustrie seit den 1970er Jahren. Vergessen wir nicht die Geschichte der geplanten Wieder­aufbereitungsanlage im niedersächsischen Gorleben und später im bayri­schen Wackersdorf. Die Atomindustrie und ihre Lobby wollten die Plutoniumfabrik zunächst in Gorleben bauen. Niedersachsens CDU-Ministerpräsident Ernst Albrecht musste aber schließlich einräumen, dass sie aufgrund des massiven Widerstands der Bevölkerung in seinem Land nicht durchzusetzen sei. Daraufhin sollte die WAA in Wackersdorf gebaut werden, auch weil Bayerns CSU-Ministerpräsident Franz-Josef Strauß in dieser konservativen Hochburg keinen Widerstand erwartet hat. Das war eine Fehleinschätzung. Die Atomlobbyisten haben den Widerstandswillen unterschätzt. Jahrelang haben die Bauern ihre Gülle in die Bohrlöcher gekippt, der WAA-Bauzaun wurde immer wieder sabotiert, und die massenhaften Proteste und Aktionen flauten nicht ab, bis die Industrie einräumen musste, dass die WAA nicht mehr zu finanzieren sei. Das sind zwei Beispiele, die zeigen, dass Soziale Bewegungen durch Druck von unten positive Dinge verwirklichen können.

Sören Weber: Kannst Du Deine Vision einer optimalen Gesellschaft skizzieren? Wie sähe die Welt aus, wenn der libertäre Sozialismus Wirklichkeit würde? Wenn eine Mehrheit diesem System folgte?

Bernd Drücke: Das wäre eine Welt, in der kein Mensch mehr hungerte, in der alle Menschen glücklicher wären und sich sozial und kreativ voll entfalten könnten. Sicher gäbe es auch weiterhin Aggressionen und Konflikte zwischen Menschen, aber insgesamt wäre es eine Welt, die allen Menschen viel mehr gerecht würde. Anders als die Welt des Kapitalismus, die organisiert ist mit Hierarchien, Befehl, Gehorsam, Militär, Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.

Die Anarchie ist nicht nur eine Utopie, es ist wichtig, sie durchzusetzen, wenn die Menschheit nicht dem Ende entgegen gehen will. Und die Menschen sind gerade auf dem besten Wege dahin, da sie ihre Lebensgrundlagen weltweit durch den kapitalistischen, auf Profit zielenden Raubbau an der Natur zerstören. Anarchistinnen und Anarchisten möchten gesellschaftliche Alternativen entwickeln, die allen Menschen ermöglichen, menschenge­rechter und naturnäher zu arbeiten.

Ein gutes Beispiel dafür, wie anarchistische Organisierung im Kleinen stattfinden kann, ist auch die gewaltfrei-anarchistische Monatszeitung Graswurzelrevolution, bei der ich arbeite. Dort wird seit 1972 nach anarchistischen Prinzipien, in basisdemokratischen Strukturen, mit Konsensprinzip gearbeitet. Das ist keine ausbeuterische Lohnarbeit, sondern weitgehend selbstbestimmte Arbeit, wie ich sie mir in allen gesellschaftlichen Bereichen wünsche. Menschenwürdige und sinnvolle Arbeit, aber auch Entschleunigung, Müßiggang, das Recht auf Faulheit für alle, so stelle ich mir die Anarchie vor.

Sören Weber: Und brauchen die Entscheidungen trotzdem längere Zeit?

Bernd Drücke: Welche Entscheidungen meinst Du jetzt konkret?

Sören Weber: Wenn Ihr bei der GWR versucht, eine Entscheidung zu treffen, die beispielsweise den gesamten HerausgeberInnenkreis betrifft, und es entbrennt eine Diskussion, wie funktioniert so eine Diskussion? Empfindest Du diese Art der Entscheidungsfindung also nicht nur vom Ergebnis her, sondern auch zeitlich als effizient?

Bernd Drücke: Eine hierarchische Struktur ist vielleicht heute noch in der Hinsicht „effizienter“, da man damit täglich und schnell Zeitungen produzieren kann. Eine anarchistisch organisierte Tageszeitung ist dagegen im Moment hierzulande noch eine Utopie. Es hat seit der kurzfristig in den 1920er Jahren auch als Tageszeitung im Rheinland und in Westfalen erschienenen anarchosyndikalistischen Schöpfung keine anarchistische Tageszeitung in Deutschland mehr gegeben. Dazu ist der Anarchismus heute noch zu schwach. Das kann sich ändern. Wer weiß?

Die GWR ist eine Monatszeitung. Das bietet den Macherinnen und Machern auch mehr Chancen, Texte vor dem Erscheinen ausgiebiger zu diskutie­ren und die eigenen Inhalte zu reflektieren, bevor etwas gedruckt wird. Bei uns bestimmen GWR-Herausgeberinnen, Herausgeber, Autorinnen und Au­toren kollektiv und basisdemokratisch den Inhalt.

Die taz hat ja mal als linke, alternative Tageszeitung mit libertären Tendenzen angefangen, aber spätestens mit Einführung der Chefredaktion und der Orientierung an der Grünen Partei ist sie das nicht mehr. Das ist bedauerlich. Die Graswurzelrevolution hat ihre basisdemokratische Struktur dagegen weiterentwickelt. Das lässt hoffen, dass sie weiterhin ein Sprachrohr sozialer Bewegungen bleibt, welches, anders als die taz, niemals Herrschaft, Ausbeu­tung und Kriege rechtfertigen wird.

Das Beispiel der Graswurzelrevolution zeigt auch, dass anarchistische Organisierung funktionieren kann. Wir diskutieren in der Regel die Texte vorab. Zum Beispiel wenn eines der rund vierzig Mitglieder des GWR-Heraus­ge­berInnenkreises sagt, „dieser Artikel gefällt mir ganz und gar nicht, da lege ich jetzt ein Veto gegen ein“, dann hat das erst einmal eine aufschiebende Wirkung. Der Artikel erscheint zunächst nicht. Das Veto muss aber begründet werden, es wird darüber diskutiert, per Mail und während der GWR-HerausgeberInnentreffen. Im besten Fall hat man den Effekt, dass am Ende dann zwei konträre Texte nebeneinander stehen und eine Diskussion in der GWR entfacht wird. Das kann auch sehr konstruktiv sein. Der positive Effekt ist, dass die Menschen, die zum Beispiel für die Zeitung arbeiten oder auch interviewt werden, doch wesentlich zufriedener damit sind, weil sie bis kurz vor Drucklegung noch Änderungen einfordern können.

Bei anderen Zeitungen weißt du oft nicht, was sie aus einem Interview, das sie mit dir geführt haben, machen. Da habe ich schlechte Erfahrungen gemacht. Mich hat vor kurzem die Neue Zürcher Zeitung telefonisch zu Griechenland interviewt. Am Ende wurde dann ohne Rücksprache ein aus dem Kontext gerissenes Zitat von mir im Rahmen eines Hetzartikels gegen griechische Anarchisten gedruckt. Auch die „linke Wochenzeitung“ Jungle World arbeitet in diesem Zusammenhang nicht anarchistisch. Die hat mich 2007 interviewt und anschließend das Interview gedruckt. Ohne dass ich das verhindern konnte, haben sie zum Teil Kernaussagen, die ihnen nicht in den Kram passen, rausgenom­men und stattdessen eher die witzigen Sachen stehen gelassen. Ein fairer Umgang sieht anders aus.

In diesem Sinne ist anarchistischer Journalismus, so wie ich ihn verstehe, fairer und oft seriöser als der schnelllebige Mainstreamjournalismus. Wenn wir für die GWR ein Interview führen, machen wir es so, dass wir den Text anschließend transkribieren und behutsam überarbeiten. Die gesprochene Sprache wird von uns redaktionell überarbeitet und der Text gegebenenfalls gekürzt. Wir schicken dann die Texte im Korrekturmodus an die Interviewten. Die können alles nochmal durchgucken und sagen, das und das ist mir wichtig, das soll drin bleiben, das kann raus, und so weiter. Es wird also sichergestellt, dass alle Beteiligten mit dem Ergebnis zufrieden sein können und dass nicht über die Köpfe hinweg entschieden wird. Das unterscheidet die GWR von vielen anderen Medien.

Sören Weber: Das ist ein schöner Ansatz. Auch wenn man ihn sich dann auf gesellschaftlicher Basis vorstellt. Du hast in Deinem Vortrag auch die Geschichte von Osman Murat Ülke und Mehmet Bal angeschnitten. Erzähl das bitte mal genauer.

Bernd Drücke: Osman Murat Ülke, auch Ossi genannt, ist ein Graswurzelanarchist, mit dem ich befreundet bin. Er wurde 1970 bei Gummersbach geboren und ist als 15-Jähriger in die Türkei gezogen, seine Eltern haben ihn dorthin geschickt, aufgewachsen war er bis dahin in Deutschland. Als Jugendlicher war er schon mit anarchistisch-pazifistischen Ideen „infiziert“. In der Türkei hat er den Kriegsdienst verweigert, seinen Wehrpass verbrannt, was in der Türkei ein absolutes Tabu ist. Das Wort „Kriegsdienstverweigerung“ gibt es im Türkischen gar nicht. Es ist nicht vorgesehen, dass jemand den Kriegsdienst verweigert. Ossi hat das aber immer wieder getan. Daraufhin ist er immer wieder für jeweils drei Monate in den Knast gekommen, mit der Aufforderung, seinen Kriegsdienst abzuleisten. Das hat er in der Folge immer wieder verweigert, woraufhin er immer wieder in den Knast gekommen ist. Theoretisch hätte das lebenslänglich so weitergehen können.

Einmal kam er in eine Zelle, in der unter anderem ein Grauer Wolf wegen Mordes einsaß, ein türkischer Faschist. Den Insassen in der Zelle wurde, kurz bevor Ossi kam, sinngemäß gesagt: „Hier kommt gleich ein Anarchist, ein gefährlicher Terrorist. Redet nicht mit dem, behandelt ihn schlecht.“ Das haben die Zellennachbarn dann auch gemacht, sie haben ihn geschnitten und nicht mit ihm geredet. Und Mehmet Bal, der türkische Faschist, saß in der gleichen Zelle mit Ossi.

Ossi ist dann nach drei Monaten entlassen worden, wieder mit der Auffor­derung, seinen Kriegsdienst abzuleisten. Woraufhin er wieder verweigert hat. Daraufhin kam er wieder in den Knast, wieder in die Zelle mit Mehmet Bal und anderen Gefangenen. Die waren ziemlich baff, dass er sich getraut hat, dahin zurück zu kommen. Sie haben dann aufgehört, nicht mehr mit ihm zu sprechen. Sie haben sich ziemlich viel gestritten. Ossi und Mehmet Bal haben sich dann fast zwei Jahre lang die Zelle geteilt. Ossi hat ihm seine gewaltfreie Ethik vermittelt. Mehmet Bal ist einige Jahre später entlassen worden, es gab eine Amnestie, und er ist als Mörder darunter gefallen. Dann sollte Mehmet Bal seinen Kriegsdienst ableisten. Stattdessen hat dieser ehemalige Faschist dann sinngemäß gesagt: „Ich fasse nie wieder ein Gewehr an, ich habe schon einen Menschen ermordet, ich will nie wieder auf jemanden schießen, schon gar nicht auf Befehl. Ich bin jetzt gewaltfreier Anarchist, Pazifist und Kriegsdienstverweigerer.“ Ein ehemaliger Grauer Wolf!

Sören Weber: Eine schöne Geschichte. Wobei man sich darüber streiten kann, ob das Gefängnis damit etwas zu tun hat oder nicht.

Bernd Drücke: Es zeigt, dass der Mensch nicht des Menschen Grauer Wolf sein muss, sondern dass sich selbst ein Verbrecher mit der menschenfeindlichsten Ideologie ändern kann. Auch solche Menschen, die sich schlimmer Verbrechen schuldig gemacht haben, können sich noch zu besseren Menschen wandeln. Und das ist in dem Fall durch die vielen Auseinanderset­zungen mit Ossi passiert. Ein großartiges Beispiel. Mehr dazu findest Du im Interview mit Ossi, das unter dem Titel „Otkökü – Graswurzelbewegung in der Türkei“ im „ja! Anarchismus“-Buch abgedruckt ist.

Sören Weber: Gibt es bereits entwickelte Konzepte, wie die Wirtschaft in einer anarchistischen Gesellschaft funktionieren könnte? Wie könnte die Güterverteilung funktionieren? Es wird sich wahrscheinlich strukturell viel verändern; Anarchisten legen ja Wert auf Dezentralität, um Machtanhäufung zu verhindern und vor Ort sein zu können. Ist Dir ein ausgearbeitetes Konzept bekannt, wo eine solche Anarchistische Wirtschaft bereits bestände?

Bernd Drücke: Es gibt viele Theorien dazu. Ein wirtschaftliches Konzept, das ich als realistischen, ökonomischen und sozialen Ansatz sehe, ist zum Beispiel das Projekt A. Die Ideen, wie sie im Buch „Das Projekt A“ formuliert wurden, sind eine praktische Anleitung zur Schaffung einer eigenen ökonomi­schen, politischen und sozialen Struktur. Entwickelt wurden diese seit den 1980er Jahren unter anderem von Horst Stowasser. Horst hat dabei aber auch auf andere Ideen zum Beispiel von Gustav Landauer zurückgegriffen und sich durch teilweise schon in die Praxis umgesetzte Projekte inspirieren lassen. Ziel des „Projektanarchismus“ ist es, selbstverwaltete, dezentrale, ökologische und libertäre Strukturen aufzubauen und miteinander zu vernet­zen, die wirtschaftlich, kulturell und politisch wirken. Das Konzept dahinter ist, vereinfacht gesagt, dass man verschiedene Doppelprojekte entwickelt. Ein Projekt davon sollte auf jeden Fall Geld erwirt­schaften. Zum Beispiel ein Taxikollektiv oder ein Buchladen. Es sollte immer wieder ein Teil des Geldes in die gemeinsame Kasse fließen, damit neue Doppelprojekte vorfinanziert werden können. Die Idee ist, dass Menschen, die herrschaftsfrei leben wollen, schrittweise eine eigene ökonomische und soziale Struktur schaffen, in der Anarchistinnen und Anarchisten auch alt werden können. Nicht nur eine soziale Bewegung, in der sie für ein paar Jahre aktiv sein können, sondern auch eine reale Basis schaffen, in der sie leben, glücklich werden und arbeiten können. In der sie durchaus auch vielfältige Arbeiten machen können, zum Beispiel, indem sie innerhalb der Doppelprojekte mal tauschen.

Mit Hilfe dieses „Projektanarchismus“ sollten Arbeits- und Wohnmöglichkeiten in kollektiver Selbstverwaltung geschaffen werden. In Horst Stowassers Wohnort Neustadt an der Weinstraße gab es vor der Krise des Projektes Mitte der 1990er Jahre 14 selbstverwaltete Betriebe, von denen einige bis heute überlebt haben und im „Werk Selbstver­walteter Projekte und Einrichtungen“ (WESPE) zusammengeschlossen sind. Ich finde die Idee nach wie vor genial. Sie ist kaum bekannt, weil das Projekt-A-Buch nur konspirativ unter der Ladentheke verbreitet wurde.

In gewisser Weise könnte man so eine Kleinstadt peu à peu „übernehmen“ und dann die Bäckereien, die sozialen Einrichtungen, die Berufe im Grunde anarchistisch organisieren, ohne Chefstrukturen. Und eben auch solidarisch, in dem Sinne, dass es eine gemeinsame Ökonomie gibt und gemeinsam neue Doppelprojekte vorfinanziert werden, innerhalb dieser Struktur. In der Realität ist das versucht worden, in den 80er, 90er Jahren. Und es gibt in der Kommune-Bewegung, wie sie der Kommunarde Uwe Kurzbein in „ja! Anarchismus“ beschrieben hat, ähnliche Entwicklungen.

Sören Weber: Wie würde die Wirtschaft innerhalb dieser Utopie aussehen, wenn man es jetzt beispielsweise geschafft hätte, eine Stadt zu überneh­men? Was für Wege könnten da gegangen werden? Ich denke zum Beispiel daran, dass das Geldsystem ja erst einmal große Ungleichheit schafft oder zumindest wirtschaftlich ermöglicht oder provoziert. Ich vermute, dass viele Leute eine geldfreie Wirtschaft anstrebten? Siehst Du das auch so?

Bernd Drücke: Ja. Als konkretes Beispiel aus der Geschichte können wir den Spanischen Bürgerkrieg nehmen. 1936 gab es den Militärputsch von General Franco gegen die Spanische Republik und die linke Regierung in Spanien. Er wurde massiv von den faschistischen Ländern Deutschland und Italien unterstützt. Gegen den Putsch fand in Barcelona, Aragón, in Teilen der Levante, in weiten Teilen des Landes im Sommer 1936 eine soziale Revolu­tion statt, die vor allem von der anarchosyndikalistischen Bewegung getragen wurde, die zu der Zeit eine Massenbewegung in Spanien war. Im „kurzen Sommer der Anarchie“ wurde dann so etwas wie eine selbstorganisierte Gesellschaft von unten realisiert. Das heißt, die großen landwirtschaftlichen Betriebe wurden kollektiviert, die Straßenbahnen, die Einrichtungen unter anderem in Barcelona wurden kollektiviert. Viele Menschen waren begeistert. Sie hatten schlagartig keine Großgrundbesitzer und Pfaffen mehr, die ihnen sagten, was sie tun und glauben sollen, sie waren ihr eigenes Kollektiv. Es gibt auch Bilder aus dem Spanischen Bürgerkrieg, wo man große Kochkollektive sieht, die Hotels übernommen haben. Es entstanden Volkskü­chen für die Normalbevölkerung. Die Bevölkerung hat dann in den Luxusvil­len und Prachthotels essen können, die zuvor nur den Reichen vorbehalten waren. Und es gab für alle genug.

Wir können auch aus den Fehlern der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft Confederación Nacional del Trabajo (CNT) lernen. Unter den Bedingungen des Bürgerkriegs wurde sie zunehmend autoritär, propagierte ein Arbeitsethos, wobei fleißige, proletarische Muskel-Männer und schöne Arbeiterinnen als Ideale dienten. Einige Mitglieder der CNT bedienten sich zum Teil sogar nationalistisch-rassistischer Klischees zur Diffamierung der auf Francos Seite kämpfenden marokkanischen „Mohren“, und die CNT beteiligte sich schließlich sogar mit einer Ministerin und drei Ministern an der Regierung. Mit den anarchistischen Vorstellungen von Recht auf Faulheit, Parlamentarismuskritik, Selbstbestimmung und Anti-Rassismus hatte das nichts mehr gemein. Das Frauenbild, das viele Anarchosyndikalisten im Spanischen Bürgerkrieg – der anarchosyndikalistischen Frauenorganisation Mu­jeres Libres zum Trotz – hatten, unterschied sich kaum vom klassischen Machismo. Das widerspricht den antisexistischen, pro-feministischen Positio­nen, die die meisten Anarchistinnen und Anarchisten heute vertreten. Und die massenhafte Ermordung katholischer Geistlicher im Spanischen Bürgerkrieg, wie sie Martin Baxmeyer 2007 in der Graswurzelrevolution Nr. 316 beschrieben hat, war ein Verbrechen, für das auch der Anarchosyndikalismus Verantwortung zu tragen hat.

„Der kurze Sommer der Anarchie“ 1936 war aber, allen Schattenseiten zum Trotz, ein großer revolutionärer Aufbruch und eine soziale Revolution auch im Bildungssektor. Vor 1936 waren die meisten Spanierinnen und Spanier Analphabeten. In den anarchistischen Gebieten sind dann 1936 über 3.000 freie Alternativschulen (Escuela moderna) entstanden. Es wurde versucht, das zu verwirklichen, was vorher eine Utopie war. Freie Bildung sollte für alle verwirklicht werden, unter menschenwürdigen Bedingungen, ohne etwas eingeprügelt zu bekommen, ohne religiöse Indoktrination, ohne das Gerede von „Sünde“ und vom „lieben Gott“. Es war eine große Bildungsrevolution. In einigen Gebieten Spaniens wurde das Geld abgeschafft. Dort gab es eine Tauschwirtschaft. Menschliche Bedürfnisse wurden erfüllt, durch kollektive Arbeit, durch ein großes sozialrevolutionäres Experiment, an dem sich Millionen Menschen beteiligt haben. Natürlich ist es ein historisches Beispiel, aber man kann aus der Geschichte eigene Schlüsse ziehen, Erfahrungen machen und für die Zukunft nutzen. Anarchie ist machbar.

Sören Weber: Was ist die Voraussetzung, um eine solche anarchistische Bewegung zu starten? Wenn wir jetzt von historischen Begebenheiten sprechen, wie lief das damals ab? Was waren Zündfunken, wie funktionierte die Bildung? Wie kam überhaupt die Idee in die Gesellschaft hinein?

Bernd Drücke: In Spanien war es so, dass die anarchistischen Ideen Michail Bakunins schon früh auf fruchtbaren Boden gefallen sind und verbreitet wurden. Der Anarchismus war für viele Menschen im wenig industriali­sierten Spanien attraktiver als der Marxismus. Das fing schon im 19. Jahrhun­dert an. Die 1910 gegründete CNT entwickelte sich früh zu einer einflussreichen Massenorganisation, auch weil sie es war, die in Spanien nach dem Ersten Weltkrieg durch Streiks und Direkte Aktionen den Acht-Stunden-Tag durchgesetzt hatte.

Die Widerstandskultur gegen den Faschismus war 1936 in Spanien ganz anders als in Deutschland, wo 1933 der Widerstand gegen die Nationalsozialisten vergleichsweise schwach war, obwohl es eine große, aber meist parteifixierte, linke Bewegung gab. Die SPD war eine Massenpartei, die verfeindete KPD ebenfalls, die Gewerkschaften waren bis 1933 einflussreich und mitglie­derstark. Aber es gab keinen Generalstreik gegen die NSDAP, was auch damit zusammenhing, dass viele parteifixierte Linke gesagt haben: „Die Nazis sind legal an die Macht gekommen, die wurden gewählt, und da ist keine Basis für einen Generalstreik.“ Das war – aus heutiger Sicht – ein fataler Trugschluss. Daraus sollten wir die Lehre ziehen, dass man den Parlamentarismus eben nicht so sakrosankt sehen darf, wie es Parteilinke auch heute gerne tun.

Ich will nicht regiert werden, auch nicht von denjenigen, die ihre Macht durch vermeintliche oder tatsächliche Mehrheiten legitimiert sehen. Der Parlamentarismus ist das Gegenteil von Selbstorganisation und beileibe kein Allheilmittel gegen Faschismus. Er ist nicht so demokratisch, wie viele denken, im Gegenteil, er kann eben auch Faschisten an die Macht bringen. Und dagegen müssen wir dann eben auch Widerstand leisten. Die Menschen in Spanien haben gesehen, was ab 1933 in Deutschland und vorher im faschistischen Italien passiert ist. Es war 1936 klar, was passieren würde, wenn General Franco und die Faschisten durchkämen mit ihrem Putsch. Auf der anderen Seite waren die spanischen Anarchosyndikalistinnen und Anarchosyndikalisten gut organisiert. Der spanische Anarchosyndikalismus war keine Nischenbewegung, im Gegensatz zum heutigen „Neoanarchismus“.

Seit 1968 ist der neue Anarchismus in Europa und Amerika vor allem in den Studierenden-, Schülerinnen- und Schüler-Bewegungen verbreitet. Er ist keine Massenbewegung und hat noch keine Basis in allen Bevölkerungsschichten. Das war damals in Spanien anders. Die spanische Arbeiterschaft war zu großen Teilen anarchistisch organisiert. Es gab zudem die FAI, die Federación Anarquista Ibérica (Iberische Anarchistische Föderation), als militanten Arm der CNT und zugleich anarchistischen Think Tank, und es gab die Massenbewegung, und die war in allen Bevölkerungsschichten präsent, in allen sozialen Bereichen. Und deshalb war sie im Sommer 1936 in der Lage, die gesellschaftliche Umwälzung von unten zu organisieren und lebenswichtige Aufgaben zu übernehmen.

Wenn Menschen nicht unter Zwang arbeiten, sondern freiwillig, wenn sie sehen, dass es etwas Großartiges ist, für andere und mit anderen zusammen im Kollektiv etwas zu machen, dann sind sie auch motivierter. Ich arbeite in einem anarchistischen Betrieb, und mir macht diese weitgehend selbstbe­stimmte, nicht entfremdete Redakteursarbeit großen Spaß. Es ist immer wieder ein großes Glückserlebnis, fast jeden Monat eine Zeitung herauszubringen und zu sehen, da ist ein Stück Gegenöffentlichkeit, die wir kollektiv hergestellt haben, und wir haben das auf eine Weise hergestellt, die außergewöhn­lich, selbstverwaltet und menschenwürdig ist.

Sören Weber: Da würde ich gern später nochmal drauf zurückkommen. Siehst Du das Konzept des Anarchosyndikalismus heute noch als sinnvoll an? Gibt es Nebenkonzepte, die vielleicht einen ähnlichen Ansatz fahren, aber einen anderen Schwerpunkt setzen? Der Anarchosyndikalismus, so kommt es mir vor, setzt einen sehr starken Schwerpunkt auf die Arbeit. Die Arbeit ist der schwächste Punkt des Kapitalismus, da muss man angrei­fen, wenn man das System verändern möchte. Gibt es da vergleichbare Konzepte?

Bernd Drücke: Ich sehe den Anarchosyndikalismus weiterhin als wichtig an. Ein Problem ist, dass es nach 1945, bedingt auch durch zwölf Jahre Natio­nalsozialismus, im Grunde keine radikale Gewerkschaftsbewegung mehr in Deutschland gab. Es gibt den offiziellen DGB und die Gewerkschaften des DGB. Die sind aber alle hierarchisch organisiert und nicht klassenkämpferisch. Es gibt keine große basisdemokratische Gewerkschaftsbewegung von unten.

Das war in den 1920er Jahren anders. Da hattest du auch in Deutschland eine – aus heutiger Sicht – große anarchistische Gewerkschaft. Die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) hatte nach dem Ersten Weltkrieg kurzfristig bis zu 150.000 Mitglieder und war Teil einer großen sozialrevolutionären Bewegung. Leider weiß das kaum jemand, dass es in den 1920er Jahren auch in Deutschland eine große anti-autoritäre und antimilitaristische Bewegung gegeben hat.

Im Grunde hat der Anarchismus heute eine andere Basis. Er ist relativ stark vertreten in den Neuen Sozialen Bewegungen. Auch die Zeitung Graswurzelrevolution hat ihre Schwerpunkte in den Bewegungen, die nach der 1968er-Revolte entstanden sind. Wir sind aktiv in der Anti-Atomkraft-Bewegung, in der Anti-Gentechnik-Bewegung, in der Antifa, in feministischen und antirassistischen Zusammenhängen. Anti-Militarismus ist einer unserer Schwerpunkte. Die sozialen Kämpfe, zum Beispiel gegen Hartz 4, gegen Sozialkahlschlag, gegen Abschiebungen und für ein Bleiberecht aller Flüchtlinge, der Kampf gegen den Überwachungsstaat, das gehört alles zusammen. Da geht es um soziale Errungenschaften, die dem Staat abgetrotzt wurden, zum Beispiel die Sozialleistungen. Was durchgesetzt werden müsste, ist eine Basisversorgung für alle, also dass alle überall würdig leben können. Es gibt ja diese Ideen vom Bedingungslosen Grundeinkommen, die ich teilweise nicht schlecht finde, wo ich aber denke, das müsste weltweit durchgesetzt werden. Das ist eine Idee, die man weiterentwickeln sollte.

Sören Weber: Wie siehst Du die anarchistische Bewegung in Deutschland? Ich habe ein Zitat von Dir gefunden, in einem Interview, das Du dem Neuen Deutschland gegeben hast: „Die anarchistische Bewegung war seit 1968 nicht so stark wie heute.“

Bernd Drücke: Ja, ich denke schon, dass anarchistische Ideen im Moment für viele Menschen so attraktiv sind wie seit Jahren nicht mehr. Das bemerke ich sowohl als Redakteur der GWR, als auch als häufig eingeladener Referent zum Thema „Anarchismus“. Es gibt viele Jugendliche, die an anarchistischen Ideen interessiert sind. Das zeigt das Beispiel der graswurzelrevolutionären Jugendzeitung utopia, die 21mal von 2007 bis Ende 2011 als GWR-Beilage und Extrablatt mit Auflagen bis 25.000 Stück erschienen ist. Das ist meiner Meinung nach enorm für eine anarchistische Jugendzeitung.

Ich habe mich ja intensiv mit den anarchistischen Zeitungen der letzten 150 Jahre beschäftigt. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es anarchistische Jugendzeitungen, aber die hatten in der Regel eine Auflage von unter 10.000. Die utopia ist also ein Indikator dafür, dass viele junge Leute kritisch denken. Die Jugend ist keineswegs so unpolitisch, wie sie oft dargestellt wird. Viele junge Leute wollen nicht nur Bravo lesen, sondern auch Zeitungen, die libertär-sozialistische Ideen vermitteln. Da ist ein großer Bedarf. Das gilt auch für die GWR, die als ge­nerationenübergreifende Monatszeitung ein ziemlich solides Fundament hat. Die Abo-Entwicklung ist positiv. Das läuft gegen den Trend, denn fast alle Printmedien haben im Internet-Zeitalter deutlich an Auflage verlo­ren oder mussten eingestellt werden.

Positiv sind auch die diversen libertären Veranstaltungen, wie zum Beispiel in Rostock die A-Wochen. Auch die Libertären Tage in Oberhausen und die Anarchistische Buchmesse in Mannheim fand ich klasse. Es gibt an vielen Orten libertäre Projekte und Veranstaltungen. Der Bedarf an Informatio­nen ist groß. Vor ein paar Wochen war ich als „Anarchie-Referent“ in Freiburg. Die Veranstalterinnen vom Mietshäusersyndikat haben die Veranstaltung mit einem Plakat angekündigt, Titel: „Anarchie!“ Über 100 Leute besuch­ten die auch vom alternativen Radio Dreyeckland beworbene und mitgeschnittene Veranstaltung und beteiligten sich an der anschließenden Diskussion. Das zeigt, dass ein Interesse an libertären Utopien da ist. Wir brauchen eine Idee, wo wir hin wollen. Wir bekämpfen, was wir schlecht finden, aber wir sollten auch versuchen, eine eigene Utopie zu entwickeln und diese im eigenen Leben und in gesellschaftlichen Zusammenhängen umzusetzen.

Sören Weber: Du bist Koordinationsredakteur der Graswurzelrevolu­tion. Was genau ist Deine Aufgabe?

Bernd Drücke: Ein Koordinationsredakteur ist kein Chefredakteur.

Sören Weber: Wie es übrigens bei Wikipedia steht.

Bernd Drücke: Da steht „Chefredakteur“?!

Sören Weber: Soweit ich mich erinnere.

Bernd Drücke: Oh, nervig. Das ist Unsinn. Koordinationsredakteur heißt, ich bin de facto ein „Angestellter des GWR-HerausgeberInnen­kreises“. Der HerausgeberInnenkreis ist ein Zusammenschluss, der sich praktisch aus der Graswurzelbewegung herausbildet. Er kommt ungefähr alle zwei, drei Monate zusammen, in wechselnden Städten, damit Leute aus unterschiedlichen Regionen teilnehmen können und der Reiseaufwand einigermaßen fair verteilt ist. Bei diesen Treffen werden für die Zeitung relevante Entscheidungen basisdemokratisch im Konsens getroffen. Es gibt den GWR-Vertrieb in Freiburg und die GWR-Redaktion in Münster. Als Koordinationsredakteur koordi­niere ich, mache unter anderem Lektorat, Layout, Satz, eine Seitenplanung in Zusammenarbeit mit den Autorinnen, Autoren, Mitherausgeberinnen und Mitherausgebern. Ich spreche Autorinnen und Autoren für bestimmte Themen an, in Rücksprache mit dem HerausgeberInnenkreis. Wir haben zwei GWR-interne Mailinglisten, worüber auch die angebotenen Artikel schon vor Erscheinen diskutiert werden. Die Graswurzelrevolution ist ein Projekt, das über Jahrzehnte gewachsen ist. Es unterscheidet sich auch von den meisten anderen Alternativzeitungen, auch den kleinen, weil es sich nicht nur an eine bestimmte Szene richtet.

Im Selbstverständnis heißt es u.a.: „Graswurzelrevolution bezeichnet eine tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzung, in der durch Macht von unten alle Formen von Gewalt und Herrschaft abgeschafft werden sollen. Wir kämpfen für eine Welt, in der die Menschen nicht länger wegen ihres Geschlechtes oder ihrer geschlechtlichen Orientierung, ihrer Sprache, Herkunft, Überzeu­gung, wegen einer Behinderung, aufgrund rassistischer oder antisemitischer Vorurteile diskriminiert und benachteiligt werden. Wir streben an, dass Hierar­chie und Kapitalismus durch eine selbstorganisierte, sozialistische Wirtschaftsordnung und der Staat durch eine föderalistische, basisdemokratische Gesellschaft ersetzt werden.“

Wir haben den Anspruch, möglichst viele Menschen zu erreichen. Die müssen jetzt nicht unbedingt schon aktiv in einer sozialen Bewegung oder schon Anarchisten sein. Die Menschen sollen bewegt und zum Denken und Handeln angeregt werden. Schön ist, wenn sie sich mit dieser Utopie auseinan­dersetzen und auch mit einer anderen Sichtweise. Also nicht mit einer elitären Sichtweise, wie sie in den normalen Medien oft rüberkommt, wo man sich an den Grünen orientiert wie die taz oder an der Linkspartei wie die junge Welt oder an den anderen Parteien, wie das die meisten anderen Zeitungen machen, sondern dass man sich an den sozialen Bewegungen orientiert. Wir sind grundsätzlich gegen Krieg. Krieg ist für uns ein Verbrechen an der Menschheit und muss bekämpft werden. Wir versuchen also alles, um Kriege zu verhindern oder zu beenden. Und in diesem Zusammenhang arbeiten wir mit vielen anderen Gruppen weltweit zusammen. Die GWR ist assoziiertes Mitglied der War Resisters‘ International (WRI). Diese Internationale der KriegsgegnerInnen wurde 1921 gegründet und hat heute etwa 90 Mitgliedsor­ganisationen in 45 Ländern. WRI-Mitglieder in Deutschland sind auch die „Deutsche Friedensgesellschaft-Vereinigte Kriegsdienst­gegnerInnen“ (DFG-VK), die „Internationale der Kriegsdienst­gegnerInnen“ (IdK Berlin), das „Archiv Aktiv“ in Hamburg und das in den 1920er Jahren von dem Anarchopazifis­ten Ernst Friedrich gegründete und nach dem Zweiten Weltkrieg wieder eröffnete „Anti-Kriegs-Museum“ in Berlin.

Die WRI ist ein weltweites Netzwerk, ein Stück weit antimilitaristische Globalisie­rung von unten. So verbinden sich Menschen, die für eine andere, bessere Welt kämpfen und Informationen austauschen. Oft werden Texte aus der GWR beispielsweise von befreundeten WRI-Gruppen oder Bewegungs-Zeitungen in andere Sprachen übersetzt. GWR-Texte gibt es zum Teil auch in russischer, französischer, türkischer, spanischer, portugiesischer, nie­derländischer und englischer Über­setzung, online und in Zeitungen. Umgekehrt übersetzen wir auch anarchistische Texte von Bewegungsaktiven aus anderen Ländern.

Sören Weber: Wie lange arbeitest Du jetzt in diesem Zeitschriftenbereich?

Bernd Drücke: Ich habe 1984 als Schüler eine selbst organisierte, linke SchülerIn­nenzeitung mit gegründet und danach früh als freier Journalist auch für bürgerliche Medien gearbeitet. Seitdem habe ich gemeinsam mit Genossinnen und Genossen über 200 verschiedene, überwiegend anarchistische Zeitschriften produziert.

Sören Weber: Ganz schön viele, ganz schön lange.

Bernd Drücke: Es macht aber immer noch Spaß.

Sören Weber: Man merkt’s. Was für eine Entwicklung hast Du in Deiner Kindheit oder Deiner Jugend durchgemacht, die schlussendlich dazu geführt hat, dass Du Anarchist geworden bist? Du hast erwähnt, dass man diese Grundlage wahrscheinlich schon immer in sich trägt, man erfährt nur irgendwann, dass das Ganze einen Namen hat und dass sich schon jemand anderes Gedanken darüber gemacht hat. Gab es entscheidende Punkte in Deinem Leben, von denen Du sagen kannst, das hat Dich beeinflusst?

Bernd Drücke: Ja, sicher. Ich bin in Unna aufgewachsen, im Ruhrgebiet. Meine Eltern sind Gärtner, meine Geschwister auch. Ich habe mich lange als „schwarz-rotes Schaf der Familie“ empfunden. Politisiert habe ich mich als Jugendlicher in der Friedensbewegung der frühen 1980er Jahre. Da gab es große Demonstrationen, zum Beispiel in Bonn gegen den NATO-Doppelbeschluss, an denen ich als Schüler teilgenommen habe. Für die Teilnahme an einer Demo habe ich sogar einen Tadel bekommen, weil ich mich unerlaubt von der Schule entfernt hatte. Die Konflikte, die ich in der Pubertät als „langhaariger Zumselritter“ mit einigen Lehrern am Gymnasium hatte, waren zeitweise massiv. Im 10. Schuljahr war es besonders extrem. Im ersten Halbjahr hatte ich einen Schulverweis, drei Tadel und 10 Rügen gesammelt. Totale Leistungsverweigerung, unzählige Fehlstunden, zwei Sechsen und vier Fünfen auf dem Zwischenzeugnis. Um nicht von der Schule zu fliegen, wurde ich dann mitten im Schuljahr in die 9. Klasse meiner jüngeren Schwester zurückgesetzt. Dann lief es ganz gut. In der Oberstufe wurde ich zum Jahrgangsstufensprecher gewählt und engagierte mich unter anderem als „Schülervertreter“ und in der Anti-Apartheid-Bewegung.

Als ich dann 1986 zum Studium nach Münster gezogen bin, kam ich schnell in die linksradikale Szene, lebte in Szene-WGs, engagierte mich unter anderem in der Volkszäh­lungsboykottbewegung (VoBo).

Mein erster Prozess war ein einschneidendes Erlebnis. 1987 wurde ich vom Amtsgericht Münster verurteilt, weil ich publizistisch und mit einem VoBo-Infostand zum Volkszählungsboykott aufgerufen hatte. Der Richter war über meine vom Prozesspublikum bejubelte, politische Verteidi­gungsrede so empört, dass er beim Strafmaß über die Forderung der Staatsan­waltschaft ging und damit drohte, den Saal zu räumen. Die erlebte Solidarität war eine gute Erfahrung.

Anfang 1987 zog ich dann mit Aktiven der Gruppe ALIBI (Anarchistisch Libertäre Initiative) zusammen, die 1987 und 1988 „Antiklerikale Wochen“ gegen die Papst-Besuche in Münster veranstalteten und 1988 das anarchistische Zentrum „Themroc“ mit gründeten.

Ab 1988 engagierte ich mich im „Umwälzzentrum“ (UWZ). 1992 kam es zur Spaltung der Umweltzentrum-Ladengruppe, in der ich bis dahin aktiv war. Das war eine bittere Erfahrung, die mich aber letztlich in meiner anarchistischen Position bestärkt hat. „Verteilt die Macht, damit sie keinen mächtig macht“, war die Forderung unserer „Umweltzentrum im Exil“-Gruppe.

Ab Mai 1992 nannten wir uns dann „Infoladen Bankrott“. Ab 1994 hatten wir ein eigenes Ladenlokal im „Emma Goldman Zentrum“ am Dahlweg. Als Bankrott-Infoladengruppe haben wir über einen Zeitraum von 20 Jahren Hun­derte Veranstaltungen gemacht, jeden Mittwoch im „FaRat-Café“ linker Fachschaften und später dann in der „Baracke“, einem bis heute bestehenden libertären Zentrum an der Uni Münster. Die wöchentlichen Plena waren oft unglaublich spannend und lustig. Der „Bankrott“ ist bis heute ein Freundeskreis, auch wenn mittlerweile die meisten Mitglieder übers ganze Land verteilt sind. Im August 2013 haben wir unsere letzte, ganztägige Veranstaltung in der Baracke gemacht, den „Libertären Tach mit Krach“.

Leider sind auch einige Projekte, an denen ich beteiligt war, „gescheitert“. Aber auch diese „Niederlagen“ sind wichtig, um daraus zu lernen. Das „Scheitern“ gehört zum Leben. Ein Beispiel: 1995 habe ich die „Initiative Freie Kinderschule Münster“ initiiert. 1999 ist unser Verein dann mit dem Versuch gescheitert, die „Freie Alternativschule Münster“ (FAS) zu eröffnen, obwohl wir die meisten Hürden schon überwunden hatten. Das war bitter, auch weil die Schulen in der katholischen Provinzmetropole Münster damals den muffigen Geruch der 50er-Jahre verströmten und unsere Kinder dann doch auf eine katholische Grundschule gehen mussten, anstatt in eine selbstverwaltete, basisdemokratische FAS ohne demütigenden Notenterror.

Ein anderes Beispiel: Nachdem der Thoriumhochtemperaturreaktor Hamm-Uentrop (THTR) 1989 nach zahllosen Protesten stillgelegt worden war, haben wir im Umweltzentrum die „Hamm-Gruppe“ aufgelöst und die Gruppe WigA (Widerstand gegen Atomanlagen) gegründet. Das war dann jahrelang eine bundesweit aktive Gruppe. Mittlerweile hat sie sich aber öfter gespalten als die Atome im ehemaligen THTR.

Auch die Hausbesetzungen, an denen ich mich ab Mai 1989 beteiligt habe, sind letztlich fast alle „gescheitert“. Die Häuser wurden geräumt und oft direkt danach abgerissen. Die Räumungen waren bittere Erlebnisse. Aber in diesen „Temporären Autonomen Zonen“ hatten wir zuvor immer auch kollektive Erlebnisse gehabt, an denen wir Beteiligten wachsen konnten.

Das gilt auch für eine Reise, die ich 1993 mit einer bundesweiten Men­schenrechtsdelegation durchs türkisch-kurdische Kriegsgebiet gemacht habe. Was wir da gesehen haben, war schockierend. Der türkische Geheimdienst hatte uns massiv bedroht und uns genötigt, verseuchtes Wasser zu trinken. Wir haben die Erlebnisse in der 1994 vom Infoladen Bankrott herausgegebenen Broschüre „Biji Azadi“ zusammengefasst. 1998 habe ich zudem dazu das Büchlein „Serxwebun! Gesellschaft, Kultur und Geschichte Kurdistans“ im Bielefelder Verlag Edition Blackbox publiziert.

Das sind alles wichtige Erfahrungen. Auf der anderen Seite spielte für mich seit der Jugendzeit die kulturelle Geschichte immer eine große Rolle, also beispielsweise Rockbands wie Ton Steine Scherben und Cochise. Das waren prägende Einflüsse. Persönliche Erfahrungen spielen immer eine große Rolle. Ich bin ein neugieriger Mensch und habe immer viel gelesen. In gewisser Weise bin ich also ein „Kopfrocker“. Lesen ist für mich in positiver Hinsicht eine Art Droge. Berauschend. Und wer auch Schriften von Emma Goldman, Errico Malatesta, Erich Mühsam, Gustav Landauer, Rudolf Rocker, Pjotr Kropotkin, Michail Bakunin, Horst Stowasser und Co. verschlingt, der lässt sich schnell vom anarchistischen Fieber packen.

Sören Weber: Du bist Soziologe. Du hast Deine Dissertation zum Thema „Libertäre Presse“ geschrieben. Diese Arbeit ist 1998 als 640-Seiten-Buch bei Klemm & Oelschläger in Ulm erschienen, unter dem Titel: „Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland“. Hast Du in Deiner universitären Laufbahn Deine anarchistischen Ideen an die Studentinnen und Studenten weiter­geben können? Wenn ja, inwieweit und wie war die Reaktion darauf?

Bernd Drücke: Ich habe von 1997 bis 2003 an der Uni Münster als Lehrbe­auftragter gearbeitet und Seminare angeboten. Zu verschiedenen Themen: „Deutscher Herbst“, „Anarchismus, Anarchie, libertäre Presse“, „Neue Soziale Bewegungen“, „Kapitalismus und Weltgesellschaft heute“,… Mein letztes Hauptseminar hatte den Titel „Terror, Krieg und Medien“ und über 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Das hat mir großen Spaß gemacht, aber mir sind dann Knüppel zwischen die Beine geworfen worden, was wahrscheinlich mit meiner politischen Arbeit und einer Auseinandersetzung mit einem Politiker zusammenhing. Ich hatte nach dem Jugoslawienkrieg einen heftigen Konflikt mit dem grünen Bundestagsabgeordneten Winfried Nachtwei. Soll ich die Geschichte erzählen?

Sören Weber: Na klar.

Bernd Drücke: Winfried Nachtwei war lange Zeit der Verteidigungspo­litische Sprecher der Grünen Bundestagsfraktion, und er war in den 1970ern ein Student meines späteren Doktorvaters Christian Sigrist. Professor Sigrist hat seinen ehemaligen Studenten noch 1998 im Bundestagswahlkampf durch einen Wahlaufruf unterstützt. Das hing auch damit zusammen, dass Nachtwei 1998 noch eine klare Position vertreten hat, grundsätzlich gegen Auslandsein­sätze der Bundeswehr. Nachdem die Grünen dann infolge der Bundestagswahl im Oktober 1998 zusammen mit der SPD eine Regierungskoalition gebildet haben, organisierten sie mit den anderen NATO-Staaten den Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Nachtwei hat dieses Umschwenken auf den Kriegskurs mit organisiert und plötzlich das Gegenteil von dem gesagt, was er noch im Wahlkampf vertreten hat. Der grüne Bundes­außenmi­nister Joseph Fischer und der bis dahin als Kriegsgegner geltende Nachtwei haben dann die Position vertreten: „Wir müssen ein zweites Au­schwitz verhindern.“

Über diese unsägliche kriegstreiberische Propaganda und widerwärtige Instrumentalisierung von Auschwitz war auch Christian Sigrist empört. Er hat mich angerufen, und ich habe ihm dann vorgeschlagen: „Okay, Christian, ich kann ja mit Dir ein Interview machen für die Graswurzelrevolution, zu Jugoslawien allgemein. Und da können wir natürlich auch auf die Grünen und auf Nachtwei zu sprechen kommen.“ Im Interview habe ich Christian Sigrist dann unter anderem gefragt, wie er sich erklärt, dass Nachtwei innerhalb von wenigen Monaten vom Kriegsgegner zum Kriegspropagandisten geworden ist. Daraufhin hat Christian gesagt: „MMB. Macht macht blöd. Auf der unteren Stufe heißt es ‚Mandat macht blöd‘. So kann man das erklären. Es ist das Kleben an der Macht, das Kleben am Mandat. Und der Bundestag ist eine Art Raumschiff. Da findet ein Realitätsverlust statt.“

Er hat den Machtpolitiker Nachtwei im Juni 1999 in der GWR 240 verbal ziemlich in die Pfanne gehauen, durch seine messerscharfe Analyse. Daraufhin hat Nachtwei einen Leserbrief geschrieben, den wir in der GWR 241 abgedruckt haben. Dann ist dieses Interview im Jahr 2000 in einer Festschrift zum 65. Geburtstag von Christian Sigrist im Lit-Verlag, einem Wissenschaftsver­lag, nachgedruckt worden. Das wollte Nachtwei nicht hinnehmen. Er hat eine Konventionalstrafe im fünfstelligen Bereich über seinen Anwalt androhen lassen, damit das Buch aus dem Verkehr gezogen wird. Er hat behauptet, dort würde eine Falschaussage über ihn verbreitet. Als Aufhänger diente ein Nebensatz von Christian Sigrist: „Ich hatte mich gewundert, dass Nachtwei auf dem Luftwaffenball gewesen war.“

Nachtwei behauptete nun, er sei gar nicht auf dem Luftwaffenball gewesen. Dann wurde der inkriminierte Halbsatz geschwärzt. Das hat Nachtwei aber nicht gereicht, und das Buch wurde schließlich ganz aus dem Verkehr gezogen. Damals gab es die wöchentliche Münster-taz, als separat verteiltes Extrablatt und Beilage der taz. Sie wurde überall in Münster ausgelegt. Deren damaliger Chefredakteur Marcus Termeer hat mich dann angefragt, ob ich einen Gastkommentar schreiben würde. Das habe ich gemacht. Sie haben das Thema Nachtwei dann als Aufmacher auf Seite 1 gebracht. In diesem Kommentar habe ich dann unter anderem geschrieben, dass es Nachtwei meines Erachtens nicht um den Luftwaf­fenball an sich ging, weil er als Vertei­digungspolitischer Sprecher ja ständig bei solchen und ähnlichen Aktionen dabei war, seien es die Soldatenspaziergänge in Münster, sei es der Große Zapfenstreich auf dem Hindenburgplatz am 20. März 2000, wo früher die Wehrmacht ihre Zapfenstreiche abgehalten hat.

Nachtwei hat dann sofort im grünen Mitglieder-Rundbrief geschrieben, dass ich ihn verleumdet hätte. Er wäre überhaupt nicht bei dem Großen Zapfenstreich am 20. März da gewesen. Zugleich diffamierte er den „Pauschalantimilitarismus der Graswurzler“. Das mobilisierte dann Grüne dazu, mich in Leserbriefen massiv anzugreifen. Als ich die nächste Münster-taz aufgeschla­gen habe, war dort eine ganze Seite mit sechs Anti-Drücke-Leserbriefen, mit dicken Überschriften wie „Echt widerlich, Herr Dr. Drücke“, „Ein Armutszeugnis für die Soziologie“. Uta Klein warf mir in ihrem Leserbrief vor, ich würde „wissenschaftliche und politische Arbeit nicht trennen“. Sie hat damals am gleichen Institut unterrichtet wie ich, nur dass sie in der Uni-Hierarchie höher stand, sie als Professorin und ich nur als Dr. phil. und Lehrbeauftragter. Viele haben mir dann vorgeworfen, ich hätte den armen Nachtwei verleumdet, denn er wäre ja gar nicht beim Großen Zapfenstreich gewesen.

Der Clou war aber, ich war da, ich habe gegen das Militärspektakel „Großer Zapfenstreich“ demonstriert, ich habe Nachtwei auf der Tribüne gesehen. Nach Erscheinen der mich diffamierenden Leserbriefe habe ich beim damaligen Münsteraner Grünen-Politiker Stefan Riese, der mich ebenfalls in einem Leserbrief als Lügner angegriffen hat, angerufen und gefragt: „Wie könnt ihr das behaupten? Ich habe Nachtwei da gesehen.“

Darauf Riese sinngemäß: Ja, ein Bekannter habe ihn auch schon angerufen und Nachtwei ebenfalls auf dem Großen Zapfenstreich gesehen. Stefan Riese rief dann in Berlin an, im Bundestagsbüro von Nachtwei, und da war Nachtweis Bürolei­ter Michael Schlickwei am Telefon. Das war der Lebensgefährte von Uta Klein, ausgerechnet der Kollegin also, die mir vorgeworfen hatte, ich würde „wissenschaftliche und politische Arbeit nicht trennen“. Realsatirisch. Schlickwei hat dann auf den Terminkalender von Nachtwei geguckt, und da stand: „20. März 2000, Großer Zapfenstreich in Münster“. Daraufhin hat er Nachtwei angerufen und gefragt: „Sag mal, hier haben sich jetzt schon mehrere Leute gemeldet, die gesagt haben, dass sie Dich auf dem Zapfenstreich gesehen haben. Warst Du vielleicht doch da? Es steht auch in Deinem Termin­kalender.“ Daraufhin hat Nachtwei eingeräumt, dass er doch da gewesen ist, weil er mit dem General befreundet sei und ihm die Ehre erweisen wollte.

Ich habe dann ein Fax an Nachtweis Bundestagsbüro geschickt und gefordert, dass die gegen mich gerichtete Verleumdung richtiggestellt werden muss, ansonsten würde ich rechtliche Schritte gegen Nachtwei erwägen. Es war ja so, dass ich am Pranger stand. Eine Woche lang ging ich als vermeintlicher „Lügner“ und „Verleumder“ in „mein“ Institut für Soziologie. Andere Dozentinnen und Dozenten haben mich geschnitten. Ich war für diese Kolleginnen und Kollegen sozusagen ein Nestbeschmutzer, der es gewagt hat, den armen Winfried Nachtwei und die Grünen in die Pfanne zu hauen. Ein Grüner hat mir sogar vorgeworfen, ich würde die Grünen kaputt machen. Meine Antwort damals: „Das kriegt ihr schon alleine hin.“

Das war eine Horrorwoche für mich. Wirklich gut war dann, dass viele Leute, die Nachtwei auf dem damaligen Hindenburgplatz gesehen haben, Leserbriefe geschrieben haben. Die wurden in der Münstertaz allerdings nur ganz klein oder gar nicht abgedruckt. Die Richtigstellung, gewissermaßen eine Entschuldigung von Nachtwei, wurde auch klein abgedruckt. Trotzdem ist das Ganze dem Nachtwei ziemlich auf die Füße gefallen. Das Münsteraner Straßenmagazin draußen hat sich mit mir solidarisiert und den Spieß umgedreht: „Echt widerlich, Herr Nachtwei“ war eine Schlagzeile, Untertitel: „Die draußen verteidigt den Soziologen Dr. Bernd Drücke“. Das war Balsam auf meine geschundene Seele. Total nett waren auch viele Reaktionen von Münsteranern. Besonders gefreut habe ich mich auch über die Worte des alten DKP-Urgesteins Ewald Halbach. Er nahm mich damals zur Seite und sagte: „Hömma, wir sind ja nich imma eina Meinung, du biss ja Anarchist. ABER: Dem Nachtwei, dem hastes aba ordentlich gegeben.“

In gewisser Weise ist Nachtwei menschlich betrachtet ein bedauernswerter Pechvogel. Nachdem die Grünen 2002 mit beschlossen hatten, Bundes­wehrsoldaten in den Afghanistankrieg zu schicken, wurde ich 2003 von der AntifaZ-Redaktion zu einer Podiumsdiskussion nach Reckling­hausen eingela­den. Als weitere Podiumsdiskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmer waren eingeladen: Angela Klein, Redakteurin der sozialistischen Zeitung SoZ aus Köln, jemand von Attac, jemand vom Antifa-Bündnis Recklinghausen, Winfried Nachtwei und ich. Nachtwei hatte schon zugesagt. Einige Tage später hat mich ein Veranstalter angerufen und gesagt: „Sag mal, hat der Nachtwei Angst vor dir? Nachdem wir ihm gesagt haben, dass du auch auf dem Podium sitzen sollst, hat er sofort seine Zusage zurückgezogen.“

Ziemlich skurril. Die Herrschenden zittern schon. (lacht)

Sören Weber: Schon allein, weil Du es bist. Nicht schlecht.

Bernd Drücke: Naja, eigentlich bin ich ja nicht unfreundlich. Ich sage nur gerne, was ich denke.

Sören Weber: Und das ist das Gefährliche. Wesentlich gefährlicher als andere Aktionsformen. Wie hat das dann in der Uni weiter funktioniert? Konntest Du weiter lehren?

Bernd Drücke: Zunächst ja. Dann gab es allerdings einen Wechsel, linke Soziologie-Professoren wie Sigrist und Krysmanski, mit denen ich mich gut verstanden habe, waren mittlerweile emeritiert. Stattdessen hatten neue, sich eher als „unpolitisch“, grün oder sozialdemokratisch verstehende Professoren das Sagen. Mein letztes Uni-Seminar war, wie gesagt, „Terror, Krieg und Medien“ im Sommersemester 2003. Das war damals vielleicht das vollste Seminar am Institut. Dennoch wurde mein Lehrauftrag nicht verlängert. Die Studis haben deshalb Unterschriften gesammelt, einen Protestbrief geschrieben und gefordert, dass „das Drücke-Seminar“ weitergehen soll. Sie haben dann auch einen Brief zurückbekommen, in dem sinngemäß zu lesen war: „Wir finden es gut, wenn Studierende sich engagieren, aber im Fall Dr. Drücke können wir da leider nichts machen.“ Ich habe dann gehört, dass es ein Gespräch von zwei entscheidenden Professoren gegeben habe. Einer der beiden habe demnach sinngemäß folgendes gesagt: „Der linksextreme Sumpf am Institut muss endlich trockengelegt werden.“ Dann seien drei Namen gefallen: Jens Kastner, Edo Schmidt und Bernd Drücke. Alle drei waren zu der Zeit als „Infoladen Bankrott“-Mitbetreiber und Autoren der laut Verfassungsschutz „verfassungsfeindlichen“ Graswurzelrevolution bekannt. Dann wurde ich aufgefordert, meinen Schlüssel im IfS-Sekretariat abzugeben und mein Schließfach zu leeren. Ein kalter Rausschmiss. Das tat weh.

Sören Weber: Es wird Zeit, eine neue Uni aufzumachen. Eine linke, radikal sumpfige Uni. (…) „Wer mit 20 kein Sozialist ist, hat kein Herz, wer es mit 30 immer noch ist, keinen Verstand.“ Was sagst Du dazu?

Bernd Drücke: Das ist Unsinn.

Sören Weber: Und doch hört man es so oft.

Bernd Drücke: Ja, das ist ein beliebtes Zitat, ich glaube von Churchill. Es gibt tatsächlich Beispiele, wo ehemalige libertäre Sozialisten in eine ganz andere Richtung abgedriftet sind. Beispielsweise Daniel Cohn-Bendit. Er hat als Anarcho im Pariser Mai 1968 eine große Rolle gespielt, bevor er später zum grünen Machtpolitiker und Kriegsbefürworter mutiert ist, also quasi zum Gegen­teil dessen, was er 1968 war. Oder Herbert Wehner, der 1926 Sekretär des Anarchisten Erich Mühsam war und für die anarcho-syndikalistische Wochenzeitung Der Syndikalist geschrieben hat, bevor er 1927 KPD-Funktionär, im Moskauer Exil zum Denunzianten und nach dem Zweiten Weltkrieg zum SPD-Politiker wurde. Es gibt solche Beispiele, wo sich Sozialisten oder Anarchisten im Alter in Machtpolitiker verwandelt haben.

Es gibt aber auch weit weniger bekannte Beispiele, wo Anarchistinnen und Anarchisten in Würde gealtert sind, ohne ihre Ideale über Bord zu werfen. Helga Weber und Wolfgang Zucht zum Beispiel, das sind die beiden Ältesten bei uns im GWR-HerausgeberInnenkreis (siehe Interview in „ja! Anarchismus“). Helga ist Jahrgang 1935, Wolfgang ist Jahrgang 1929. Sie sind seit mehr als 50 Jahren in der antimilitaristischen und libertären Bewegung aktiv. Wolfgang hat eine der Vorläuferzeitungen der Graswurzelrevolution im April 1965 in Hannover mit gegründet und 13 Ausgaben bis 1966 mit produziert, die Direkte Aktion – für Anarchismus und Gewaltfreiheit.

Helga und Wolfgang sind großartige Persönlichkeiten. Sie stehen nicht im Rampenlicht, aber sie haben immer an ihren Idealen festgehalten. Und die beiden sind ein Liebespaar. Das merke ich auch immer bei den GWR-He­rausgeberInnen­treffen. Sie sind schon seit den 1960er Jahren zusammen und lieben sich immer noch. Das ist schön. Und jeder, der das Vergnügen hat, mit den beiden zu diskutieren, kann sich von ihrem klaren Blick, ihren klugen Analysen und ihrem wachen Verstand überzeugen. Damit stellen sie so manchen zur Realpolitik bekehrten Schlaumeier in den Schatten. Also: Als Anarchist kannst du würdevoll alt werden. Das Zitat von Churchill ist ein Klischee, das nicht der Realität entspricht.

Sören Weber: Hoffentlich. Was denkst Du, was für Aktionen braucht es heute am dringendsten? Welche gesellschaftlichen Veränderungen müssten dringend stattfinden?

Bernd Drücke: Oh, da gibt es viele. Es gibt in allen Gesellschaften viel, was verändert werden müsste. Einiges habe ich ja schon erwähnt. Ich denke, dass es wichtig ist, dass man mit fantasievollen, lustigen und entlarvenden Direkten gewaltfreien Aktionen gegen jegliche Form von Herrschaft und Ausbeutung, gegen Rassismus, Militarisierung, Gentechnik, Sexismus und die Auswüchse des Kapitalismus vorgeht. Im Moment gibt es viele positive Entwicklungen, die mich hoffen lassen. Stuttgart 21, das finde ich großartig, dass da jetzt so eine große Bewegung gegen dieses kapitalistische Mammutprojekt im Gang ist. Gerade im Schwabenland, was ja in Bezug auf soziale Bewegungen eher als unterentwickelt galt. Auch dass in der Anti-Atomkraftbewegung und im Widerstand gegen Gendreck gerade so viel läuft, finde ich klasse.

Und im Bereich Anti-Faschismus tut sich derzeit auch viel Positives. Beispiel Dresden: der große Nazi-Aufmarsch, der letztlich durch Blockaden, also Direkten, gewaltfreien Widerstand verhindert werden konnte. Durch 20.000 Gegendemonstrantinnen und Demonstranten, die entschieden bloc­kiert haben. So etwas Ähnliches hatten wir in Münster auch. Die von dem Neonazi Axel Reitz geführten „Autonomen Nationalisten“ wollten 2006 einen „reichsweiten“ Aufmarsch in Münster machen. Es kamen 170 Neonazis. Wir waren auf der anderen Seite über 5.000 Antifas. Die Polizei hat das betrof­fene Hansa-Viertel für Antifas gesperrt. Aber 2.000 Bewohnerinnen und Bewohner, die direkt im Hansaviertel waren, konnten sich dennoch auf die Straße setzen, sich unterhaken und den Naziaufmarsch direkt blockieren. Von oben, aus den Häusern an der Bremer Straße, flogen Eier und Tomaten auf die Nazis. Der Naziaufmarsch musste nach 200 Metern abgebrochen werden und die Faschisten bedröppelt nach Hause fahren. Das, finde ich, ist eine schöne Sache, dass man den Nazis mit gewaltfreiem Widerstand etwas entgegen setzen kann. Natürlich gibt es ständig die Gefahr einer gesellschaftli­chen Entwicklung nach rechts, aber ich bin optimistisch, dass wir dem etwas entgegen setzen können.

Dazu gehört auch, dass Libertäre sich in die Kultur- und Lokalpolitik einmischen sollten. Ein Beispiel: In Münster habe ich als Mitglied des Umwelt­zentrum-Archiv-Vereins zusammen mit der Künstlerin Silke Wagner für die „skulptur.projekte 2007“ das politische Kunstprojekt „Münsters Geschichte von unten“ entwickelt. Dazu gehört neben der Internetseite www.uwz-archiv.de auch eine Skulptur, die an meinen 1999 verstorbenen Freund und Genossen Paul Wulf erinnert. Paul Wulf wurde 1938 im Alter von 16 Jahren von den Nazis als „lebensunwerter“ Heiminsasse zwangssterilisiert. Paul war ein unermüdlicher Aufklärer und eine antifaschistische Stimme der 350.000 von den Nazis Zwangssterilisierten. Nach seinem Tod 1999 haben wir den Freun­deskreis Paul Wulf ins Leben gerufen. 1999 haben wir die Broschüre „Paul Wulf. Ein Antifaschist und Freidenker“ und 2007 das Buch „Lebensun­wert?“ publiziert, um an unseren Freund zu erinnern und seine Arbeit fortzuset­zen. Paul verstand sich als „Anarchist und Kommunist“. 1991 wurde er für seine antifa­schistischen Ausstellungen und seine aufklärerische Arbeit mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Er war zeitlebens ein Außenseiter und wurde leider auch von den meisten Linken nicht ernst genommen. Erst durch die international beachtete Paul-Wulf-Skulptur wurde er zur „öffentlichen Person“. Ab 2007 habe ich mich dafür engagiert, dass der nach einem Eugeniker und NS-Arzt benannte „Jötten-Weg“ in „Paul-Wulf-Weg“ umbenannt wird, und zudem beantragt, dass mit einer Gedenktafel an den NS-Täter Karl-Wilhelm Jötten und das NS-Opfer Paul Wulf erinnert wird. 2012 kam mein Antrag durch. Seitdem erinnert in Münster eine Straße an Paul Wulf.

Maurice W. (netz-betrieb): Du hast vorhin von der Spanischen Revolution erzählt. Gab es sonst noch praktische Umsetzungen anarchistischer Ideen? Wenn ja, was waren ihre Charakteristika?

Bernd Drücke: Es gibt immer wieder verschiedene Versuche, anarchistische Utopien in die Realität umzusetzen. In Deutschland wurden schon vor hundert Jahren Kommunen nach anarchistischen Prinzipien aufgebaut und freiheitliche Schulen gegründet. Das antiautoritäre Internat Summerhill wurde zum Beispiel 1923 in Dresden gegründet, bevor es nach England gezogen ist. Das gibt es immer noch, es ist praktisch ein Versuch, antiautoritäre, libertäre Anti-Pädagogik in die Tat umzusetzen.

Oft stellen auch Hausbesetzungen ein Stück weit gelebte Anarchie dar. Da gab es in Deutschland eine ganze Reihe von tollen Geschichten. Zum Beispiel gab es Hausbesetzerwellen in Berlin: 1980/81 waren zeitweise über 160 Häuser in Westberlin und nach der Wende 1989/90 rund 130 Häuser allein in Ostberlin besetzt. Da haben Tausende in besetzten Häusern gelebt und versucht, eine libertär-sozialistische Utopie im kollektiven Zusammenleben umzusetzen. In Münster, wo ich seit 1986 lebe, begann die lokale Hausbesetzergeschichte 1972 mit der Besetzung der Grevener Straße 31 durch wohnungslose Studierende. Das Haus konnte früh durchgesetzt werden und ist bis heute selbstverwaltet. Ab 1973 wurde in Münster die Frauenstraße 24 besetzt. Nach zehn Jahren konnte der Erhalt durchgesetzt werden. Bis heute ist die F24 ein selbstverwaltetes Projekt mit WGs und Kneipe. Es gab zig weitere Besetzungen. Meine eigene „Hausbesetzergeschichte“ begann im Mai 1989 mit einer Besetzung in Unna. Seit 1991 lebe ich mit meiner Familie und 60 Menschen in dem jahrelang abrissbedrohten Wohnprojekt Breul und Tibusstraße. Mitte der 1990er konnten wir nach vielen Aktionen den Erhalt durchsetzen und die Häuser 1998 in Eigenregie kollektiv sanieren. In gewisser Weise sind solche Projekte auch aktuelle Beispiele für „Gelebte Utopie“ und „Anarchie im Alltag“. Wenn wir einen Blick in die Geschichte werfen, dann gab es in der Vergangenheit auch frühe anarchistische Gemeinschaften, egalitäre Gesellschaften, „primitive Anarchisten“ werden sie in der Wissenschaft genannt, wo eine ganz andere Ethik galt als die, die heute dominant ist. In Lateinamerika, in Afrika und Asien gab es vor der Kolonialzeit egalitäre Gesellschaften, in denen es tabu war, dass sich ein Mensch über einen anderen stellte.

Oft hatten die egalitären Gesellschaften, obwohl sie sich untereinander nicht kannten, eine ähnliche „An-Architektur“. Meistens Holzbauten und Rundbauten, es wurde also im Kreis gebaut, und jeder konnte selbst in die Mitte gehen. Es war ein Tabubruch, wenn man sich über jemand anderes stellte und das Haus höher baute als der andere. Es war immer wichtig, dass die Gleichheit wieder hergestellt wurde: Wenn Kolonialherren anfingen, bei den (bis zur Kolonialisierung) egalitären Gesellschaften Spiele mit Gewinnern und Verlierern einzuführen, dann spielten die Leute so lange, bis es wieder unentschieden stand. Oder wenn einer nicht so schnell rennen konnte, durfte er vorlaufen, damit am Ende wieder alle gleichzeitig ins Ziel kamen und die Gleichheit wiederhergestellt war. Sieg im Sinne von Siegen über andere Menschen, das konnten egalitäre Gesellschaften ethisch nicht rechtfertigen, es war für sie ein Tabubruch, und das wurde erst von den europäischen Kolonialmächten eingeführt. Wie auch das Häuptlingssystem mit dem Häuptling im Sinne von Herrscher. Häuptlinge hatten ursprünglich keine Macht in Sinne von Herrschaft, sondern eher eine Art Sprecherfunktion. Sie konnten sofort abgesetzt werden, wenn sie etwas taten, was nicht im Konsens mit den anderen geschah.

Man kann sagen, dass die Anarchie als Lebensform etwas ist, was dem Menschen grundsätzlich nicht fremd ist, sondern in weiten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens naturgemäß eine große Rolle spielt. Gegenseitige Hilfe war und ist eines der wichtigsten Prinzipien bei der Entwicklung der Menschheit. Zu dem Thema kann ich zum Beispiel das Buch „Herrschaftsfreie Institutionen“ von Rüdiger Haude und Thomas Wagner empfehlen.

Maurice W.: Warum konnten die egalitären Gesellschaften sich nicht durchsetzen? Woran scheiterten sie?

Bernd Drücke: Das hat damit zu tun, dass sich das autoritäre Denken beziehungsweise die Gewalt der autoritären Gesellschaften durchgesetzt hat. Allerdings glaube ich, dass diese Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens im Kapitalismus die falsche Form ist und dass es notwendig ist, das zu ändern, weil ansonsten die Menschheit den Bach runter geht. Man sieht die momentane Entwicklung der Welt: Klimawandel und Artensterben.

In den nächsten Jahren werden bis zu 50 Prozent der Tier- und Pflanzenarten aussterben, die Meere werden in 40 Jahren wahrscheinlich fischfrei sein, wenn es so weiter geht, und deshalb ist eine andere Gesellschaftsform nötig, die nicht auf Ausbeutung aufbaut, sondern auf Gegenseitiger Hilfe und auf einem nachhaltigen Leben mit der Natur. Sie nicht zu zerstören und zu beherrschen, sondern mit der Natur menschen-, tier- und umweltgerecht zusammen zu leben, das ist die Voraussetzung für das Überleben der Menschheit. Das kapitalistische Gewinnstreben ist das große Problem, und es führt dazu, dass die Menschheit ihre eigene Existenzgrundlage Stück für Stück vernichtet.

Maurice W.: Du hast einmal davon gesprochen, dass Anarchisten und Kommunisten anfangs zusammengearbeitet haben, sich dann aber spalteten. Wie verhält sich der Anarchismus zum Kommunismus? Oder polemisch gefragt: Was machen Deines Erachtens die Anarchisten besser?

Bernd Drücke: Das gemeinsame Ziel ist die klassenlose Gesellschaft. Wenn man es genau in diesem Sinne übersetzte, könnten wir Anarchie auch als Kommunismus bezeichnen. Der Begriff Kommunismus ist durch die so genannten Kommunisten allerdings so diskreditiert worden, dass er diese positive Bedeutung nicht mehr haben kann. Das, was in der DDR, in der Sowjetunion existierte (und heute noch in Nordkorea), hat mit dem freiheitlichen Sozialismus, den ich mir erträume, überhaupt nichts zu tun. Das sind Diktaturen gewesen, und Diktaturen gilt es zu bekämpfen. Als Anarchist kann ich keine Herrschaft akzeptieren, auch keine Herrschaft einer Partei oder eines Parteiapparats. Die Bolschewiki waren nichts anderes als ein Partei­apparat, ein Herrschaftssystem, das sehr autoritär war, das die sowjetische Gesellschaft stärker militarisiert hat.

In der Geschichte sind Kommunisten und Anarchisten zwei ungleiche Geschwister. Nachdem die Kommunisten im Spanischen Bürgerkrieg von der Sowjetunion stark aufgerüstet wurden, durch Waffenlieferungen an die Kommunistische Partei Spaniens, wurden auch Spitzel aus der Sowjetunion eingeführt. Die Anarchisten, Trotzkisten, alle nicht stalinistischen Linken wurden von Stalins Schergen massiv bekämpft. Es gab stalinistische Säuberungen innerhalb des antifaschistischen Lagers, es gab einen Krieg, in dem Kommunisten auf Anarchisten geschossen haben. Spätestens 1938 war die Spanische Revolution gescheitert, weil die anarchistischen Errungenschaften wieder zurückgedrängt wurden und es nur noch darum ging, Krieg zu führen und Spanien nach dem Vorbild der stalinistischen Sowjetunion umzuformen. Das hatte mit Anarchie nichts mehr zu tun.

Aus dieser Geschichte kann man lernen. Zu diesem Thema habe ich 2004 mit Martin Baxmeyer und Luz Kerkeling das Buch „Abel Paz und die Spanische Revolution“ im Verlag Edition AV herausgegeben.

Man kann auch sehen, was mit den überlebenden Anarchisten passiert ist, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und späteren DDR waren. Die sind verhaftet und zum Teil auf makabre Weise wieder dort inhaftiert worden, wo sie schon während der Nazizeit saßen, nämlich in ehemaligen Konzentrationslagern, die jetzt teilweise von der SED oder dem sowjetischen Geheimdienst zur Kasernierung von politischen Gefangenen benutzt wurden. Da waren nicht nur Nazis interniert, sondern eben auch Anarchisten, die sich nicht der SED-Herrschaft unterordnen wollten. Da kann man sehen, dass Bakunin es schon vor 140 Jahren auf den Punkt gebracht hat: „Gib dem größten Revolutionär Macht, und er wird zum Tyrannen.“ Die Anarchisten waren letztlich immer die Verlierer der Geschichte, aber moralisch wurden sie nie besiegt.

Max Weber, ein deutscher Soziologe, hat die Anarchisten als „Gesinnungsethiker“ beschrieben. Die Gesinnung spielt tatsächlich eine große Rolle. Wir Libertären sind lachende Verlierer, wir haben viele gesellschaftliche Auseinan­dersetzungen verloren, aber nicht unsere Utopie. Die Idee des Anarchismus ist nicht gestorben.

Ein Beispiel: Nachdem die Franco-Diktatur in Spanien in den 70er Jahren beendet war, hat sich die CNT, die im Exil überdauert hatte, wieder in Spanien als öffentliche Gewerkschaft organisiert, und es gab einen großen anarchosyndikalistischen Kongress 1978 in Barcelona, wo über 100.000 Leute hingefahren sind – eine neue Geburt des europäischen Anarchosyndikalismus. Leider war diese Stärke nur von kurzer Dauer. Bedingt durch Spaltungen und diverse Konflikte gibt es in Spanien heute zwei CNTs und eine CGT (Con­federación General del Trabajo), die sich alle in der Tradition der historischen CNT sehen. Das Ganze erinnert mich ein bisschen an die „Judäische Volksfront“, die „Volksfront von Judäa“ und die „Populäre Front“ aus dem Monty Python-Film „Das Leben des Brian“: Die CNT teilte sich bereits 1979 in CNT/AIT und CNT/U. Die CNT/AIT beanspruchte den originalen Namen „CNT“, was die CNT/U 1989 veranlasste, ihren Namen in CGT zu ändern, aber die meisten der CNT-Prinzipien aufrechtzuerhalten. Die CGT ist mit rund 60.000 Mitgliedern größer als die CNT und derzeit die drittgrößte Gewerkschaft in Spanien. Ein wichtiger Grund für die Trennung und der hauptsächli­che Unterschied zwischen den beiden Gewerkschaften ist, dass die CGT, wie andere spanische Gewerkschaften auch, an elecciones sindicales (Syndikatswahlen) teilnimmt, in denen Mitarbeiter ihre Vertreter für die Tarifverhandlun­gen wählen.

Solchen Flügelkämpfen zum Trotz finde ich die anarchistische Utopie überzeugend, und ich glaube, dass eine menschenfreundlichere Gesellschaft, die statt auf Konkurrenz auf Gegenseitige Hilfe setzt, der Weg ist, um die Menschen aus dieser Krise herauszuführen, in der wir uns befinden. Die Krise sehe ich nicht nur wirtschaftlich, sondern ich sehe noch bedrohlicher die ökologische Krise, wo Tiere, Pflanzen und die Lebensgrundlagen der Menschen vernichtet werden. Unter anderem durch den Atommüll, den wir überall produzieren, sowohl in Deutschland als auch weltweit, und der für eine Million Jahre strahlen wird. Eine sichere Atommüllendlagerung kann es nicht geben. Es weiß keiner, was in 50.000 Jahren ist, und dann strahlt das Zeug noch genauso wie heute. Das Bewusstsein der Menschheit ist noch gar nicht so alt. Die Menschheit gibt es erst, sagen wir, seit einer Million Jahren und die Historie der Menschheit seit nicht einmal 50.000 Jahren. Davor, kann man sagen, gibt es keine historische Aufarbeitung der Menschheitsge­schichte, das ist alles erst danach entstanden. In solchen Zeiträumen müsste man aber denken, wenn man eine sichere Atommüllendlagerung anstrebte. Von daher ist es wichtig, für den sofortigen weltweiten Ausstieg aus der Atomindustrie zu kämpfen.

Maurice W.: Welche anarchistischen bzw. anarchoiden Bewegungen, Ideen und Projekte befinden sich derzeit im Aufwind?

Bernd Drücke: Der erfolgreichste libertär-sozialistische Verlag in Deutschland ist im Moment die Edition Nautilus. Sie produziert unter anderem auch Krimis. Von den „Tannöd“- und „Kalteis“-Büchern haben sie über zwei Millio­nen Exemplare verkauft. Ein Riesenerfolg. Zudem existieren libertäre Kleinver­lage, die viele lesenswerte Bücher produzieren und sich zum Teil in der Assozi­ation Linker Verlage (ALiVe) verbunden haben.

Weiterhin gibt es alternative Wohnprojekte, die basisdemokratisch zum Beispiel im Mietshäusersyndikat organisiert sind und sich so dem Kapitalmarkt entziehen. Es gibt libertäre Kommunen, die sich als „Kommuja“-Netzwerk verbunden haben. Es gibt selbstver­waltete Betriebe und lesenswerte Bewegungsblätter. Interessant finde ich unter anderem auch die Contraste als „Zeitung für Selbstverwaltung“, die anarchosyndikalistische Direkte Aktion, den anarchistischen Feierabend aus Leipzig, das Antifainfo, die anti atom aktuell, die operaistischen Zeitschriften Wildcat und grundrisse. In vielen Städten gibt es kleine linke Publikationen und Projekte, soziale Zentren, Infoläden, linke Buchläden, selbstverwaltete Häuser, Wagenburgen, Kollektivbe­triebe und Szene-Kneipen. Da ist eine Menge sozialrevo­lu­tionäres Potential. Es ist wichtig, dass sich die verschiedenen Projekte vernetzen und einen solidarischen Umgang pflegen.

Maurice W.: Was ist mit Repressionen? Zum Beispiel in dem Wohnpro­jekt, wo Du lebst? War es da anfangs relativ friedlich von Seiten der Stadt?

Bernd Drücke: Ich lebe seit 1991 im Wohnprojekt Breul/Tibusstraße. Das ist eine alte Arbeitersiedlung aus dem Jahre 1880. Sie war lange Zeit abrissbe­droht. Ab Ende der 1980er Jahre hat der damalige Vermieter Wohnbau GmbH versucht, uns da rauszuekeln. Den Wohnbau-Verwalter Wobbe nannten wir „Wob­beken Piss“. Er formulierte unmissverständlich: „Ich bin nicht Vermieter, sondern Entmieter“. Im wahrsten Sinne des Wortes pinkelte er auf den Dachboden des Breul 34, „um die Substanz zu testen“. Diverse Psychoterroraktionen folgten. Es gab auch üble Artikel in den Lokalzeitungen, wir wurden als „Münsters Hafenstraße“ und „Schandfleck für Münster“ angegriffen. Es gab sogar einen Brandanschlag.

Aber letztlich haben wir es unter anderem durch gewaltfreie Protestaktio­nen, Straßenfeste und eine gelungene Öffentlichkeitsarbeit geschafft, viel Solidarität zu bekommen und die Häuser zu retten. Wir haben die Räumungsprozesse gewonnen. Es gab in Münster ab 1994 eine kurze Phase Rot-Grün, und da konnten wir das realisieren, weil SPD und GAL in ihren Wahlpro­grammen den Erhalt der Häuser versprochen hatten und wir sie dann darauf festnageln konnten. Wir sind dann ab 1997 für anderthalb Jahre in eine alte Schule gezogen, haben die Häuser in dieser Zeit gemeinsam saniert. Jetzt haben wir ein eigenes Blockheizkraftwerk im Keller, eine eigene Stromversorgung, eine Regen­wasserrückhalteanlage, Fledermaushöhlen, eine ökologische Wärmedämmung und so weiter. Rund 60 ganz unterschiedliche Menschen leben in diesem Wohnprojekt.

Natürlich gibt es da immer wieder Probleme, aber das Gemeinschaftsleben ist besser, als wenn man isoliert irgendwo im Hochhaus wohnt. „Keiner kennt keinen und im Fahrstuhl ist jeder lieber allein“ – so sieht ja leider die gängige Lebensform in dieser Gesellschaft aus, und das gilt es durch solidarische und ökologische Wohnformen aufzubrechen. Gemeinschaft ist cool.

Die Erfahrung, sich gemeinsam gegen einen Baulöwen und mächtige Politi­ker durchgesetzt zu haben, schweißt zusammen, obwohl wir nicht mehr räu­mungsbe­droht sind. Hier gibt es gelebte Nachbarschaft und Gegenseitige Hilfe. Wir unterstützen auch andere, von Räumung bedrohte Wohnprojekte in Münster, beispielsweise die Nieberdingstraße, die Grevener Straße und die Wagen­burg.

Maurice W.: Wie sieht es mit der Zukunft des Anarchismus aus? Ist er ein Auslaufmodell? Oder hat er das Potenzial, gesellschaftlichen Einfluss zu nehmen und emanzipatorisch zu wirken?

Bernd Drücke: Ich bin kein Prophet, aber die anarchistische Bewegung ist lebendig. Sie ist keine Massenbewegung. Na und? Es gibt positive Ent­wicklun­gen, beispielsweise der große anarchistische Kongress im schweizeri­schen St. Imier 2012 oder die Gründung der Gai Dao als Online-Monatszei­tung der „Föderation deutschsprachiger AnarchistInnen“ (FdA).

Lange Zeit galt der Anarchismus als Jugendphänomen. Das ist er auch. Aber nicht nur. Mich hat neulich eine 87-jährige Frau angerufen, die die Graswurzelrevolution neu abonniert hat. Sie war jahrelang in Lateinamerika unter­wegs und ist zurück nach Salzburg gezogen, wo sie ursprünglich her kommt. Irgendwann hat sie ein Probeheft bestellt, jetzt ist sie Abonnentin. Dann hat sie wieder in der Redaktion angerufen und suchte Kontakt zu Anarchistin­nen und Anarchisten in Salzburg, und ich konnte ihr auch ein paar Adressen und Namen nennen.

Das finde ich großartig, wenn sich Leute auch im hohen Alter für die Idee der Anarchie begeistern. Fazit: Der Anarchismus ist generationsübergreifend und hält jung. Es ist nie zu spät Anarchist oder Anarchistin zu werden.

Die Idee der gewaltfreien, herrschaftslosen Gesellschaft ist überzeugend und brillant. Ein selbstbestimmtes, kollektives Leben und die Abschaffung des Kapitalismus sind machbar und richtig.

Interview aus: Bernd Drücke (Hg.): Anarchismus Hoch 2. Soziale Bewegung, Utopie, Realität, Zukunft. Interviews und Gespräche, Karin Kramer Verlag, Berlin 2014, ISBN 978-3-87956-375-3, 240 Seiten, 18 Euro

Anmerkung:

1 Das Interview von Sören Weber wurde am 9. Oktober 2010 während der A-Woche in Rostock unter Zeitdruck und netten Menschen aufgenommen. Es entstand im Anschluss an zwei Vorträgen von Bernd Drücke und erschien als Podcast auf: http://herrschaftsfrei.org/podcast/herrschaftsfrei.org_001_bernd_druecke.mp3 sowie als Diashow auf: www.youtube.com/watch?v=7sYLU8Hznl4
Ergänzt wird es durch einen Absatz aus einem Gespräch, das Maurice W. am 13. Mai 2009 mit Bernd Drücke für das Online-Magazin www.netz-betrieb.de geführt hat, sowie durch schriftliche Ergänzungen und Aktualisierungen, die im Januar 2014 in den Text eingeflossen sind.’Das vollständige Interview von Maurice W. ist unter dem Titel „Durch gewaltfreie Aktionen kann man die Welt positiv verändern – Interview mit Bernd Drücke“ online dokumentiert unter: www.anarchismus.at/texte-anarchismus/anarchistische-medien/6049-gewaltfreie-aktionen-bernd-druecke Transkription: Muriel Schiller. Redaktionelle Überarbeitung: Jörg Siegert und Bernd Drücke

2 Kommentare

  1. Idahoe

    Es sind leere Worthülsen, Anarchie, genauso wie Demokratie

    Die formalisierten Sprachcodes erinnern mich an Orwells Farm der Tiere, in der manche Tiere napoleonisch gleicher werden. Ideologien verwenden formalisierte Sprachcodes mit Wirklichkeitsanspruch.

    Was ist Gewalt?
    Die Sprache ist verräterisch, denn der Regulus, der kleine König erläßt die Regula, den Maßstab. Eine Regel ist immer Ausdruck eines Herrschaftsverhältnisses.
    Wer Regeln und daher Anweisungen fordert, hat kein Interesse an Verständigung. Verständigung ist die Voraussetzung für Vereinbarungen und Übereinkünfte auf Augenhöhe.

    Statt Realitäten zu erschaffen, die auf Regelwerken, auf GLAUBEN aufbaut, könnten sich Menschen (für Sprachcodefanatiker: und Menschinnen) einfach mit der Wirklichkeit befassen und zumindest versuchen diese zu begreifen, denn bisher ist noch jede geschaffene Realität an der Wirklichkeit gescheitert. Es ist durchaus zu erwarten, daß die Wirklichkeit auch künftig das einzige tatsächliche Maß darstellt.
    Der Sein-Sollen-Fehlschluss für Interessierte.

    Sprache ist nur ein Informationsträger, nicht die Information selbst:
    Sprache hat kein Geschlecht, Sprache wertet nicht, Sprache diskriminiert auch nicht, das macht einzig, … wie sage ich das heute richtig, das Menschin*(?).
    (Wer erklärt das den Sprachwissenschaftlern?)

    Ein Glaubenssystem mit einem anderen Glaubenssystem zu ersetzen, ist sinnlose Beschäftigungstherapie.

    Mit anderen Worten, statt eine Wissensgesellschaft auf ein Fundament des Glaubens stellen zu wollen, könnte durchaus einmal das mit dem Wissen ausprobiert werden…

    Zur Basisdemokratie empfehle ich Condorcet bzw. Arrows Paradoxon.
    Zur Wirklichkeit ein Auszug aus einem Mailtext
    http://is.gd/neudenk

    Gruß

  2. Auch mir stößt die Vereinfachung des Gewaltbegriffs auf. Das Gewaltmonopol des Staates kanalisiert die Gewalt, auch die strukturelle und kulturelle. Es kömmt darauf an, einen jeden Menschen und Bürger in die „freiwillige Pflicht“ zu nehmen, an der Staatsgewalt teil zu nehmen, um Institutionen und Fakultäten, wie Bildung, Solidarität und Widerstand zu stärken. Auch Hirachielosigkeit bezieht sich in erster Linie auf die Regierung und ist kein allgemeingültiges Ordnungsprinzip. Der beschriebene Weg des Anarchismus ist nichtsdestotrotz ein richtiger, weswegen die Piraten gut daran täten, ihn gemäß des Antrags https://wiki.piratenpartei.de/BE:Parteitag/2013.1/Antragskommission/Antragsportal/Satzungs%C3%A4nderungsantrag_-_013 zu würdigen.

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