Kobanê  –  Wider die Banalisierung eines radikalen Kampfes
Kobanê – Wider die Banalisierung eines radikalen Kampfes

Kobanê – Wider die Banalisierung eines radikalen Kampfes

Ismail Küpeli (Hg.): Kampf um Kobanê. Kampf um die Zukunft des Nahen Ostens

Edition Assemblage, Münster, September 2015, 168 Seiten, 12.80 Euro, ISBN 978-3-942885-89-8

Rezensent: Oliver Kontny, Dezember 2015

Kann man über die rasanten Entwicklungen in der in Nordsyrien liegenden kurdischen Stadt Kobanê überhaupt in Buchform schreiben? Ist nicht jeder Text schon veraltet, bevor er überhaupt im Druck erscheint?

Der Politikwissenschaftler Ismail Küpeli unternimmt den Versuch, übers Tagesaktuelle hinauszugreifen, indem er ein Team von Autor*innen versammelt, die aus bzw. für eine deutsche Perspektive schreiben – Momentaufnahmen sicherlich, nach deren Lektüre man das Bedürfnis nach einem Update durch digitale Medien haben mag, aber doch Darstellungen und Debatten, die ein Verständnis aktueller Entwicklungen erleichtern dürften.

Anspruch und Selbstverständnis der kurdischen Revolutionär*innen lassen aufhorchen: Ulf Petersen zitiert einen hohen PKK-Funktionär, der behauptet, wenn es schon kein richtiges Leben im falschen gebe, wolle man mit der Revolution von Rojava, d.h. der Autonomie-Erklärung kurdischer Kantone in Nordsyrien, lieber gleich mit dem Aufbau des richtigen Lebens beginnen: „Indem [die Rojava-Revolution] von der kreativen Grundeigenschaft der Menschheit ausgeht, wird der Überwindung der tief im Bewusstsein verankerten Struktur des hierarchisch-etatistischen Systems eine besondere Bedeutung beigemessen.“ (S. 30)

Dabei sei die Überwindung der kapitalistischen Moderne zwar Vorbedingung, aber eben nur ein Teil des Weges. Deutsche Linke bezweifeln seit Jahrzehnten, ob der kurdischen Bewegung überhaupt daran gelegen ist, den Kapitalismus zu überwinden, und verbinden Unbehagen an der Moderne meist mit islamistischer Barbarei und Antisemitismus. Nun kommt erschwerend hinzu, dass die kurdische Bewegung in der Tat durch einen kleinen, aber autoritären ML-Kader geprägt wurde.

Erst nach der Inhaftierung des unbestritten Massimo Lider Öcalan (Apo) kam es zum sogenannten Paradigmenwechsel, der meist unter Verweis auf die von Öcalan in seinem 2010 erschienenen Buch „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ aufgegriffenen Ideen des US-amerikanischen Anarchisten Murray Bookchin diskutiert wird.

Eine Auseinandersetzung mit den öko-anarchistischen Ideen Bookchins und ihrer Rezeption in der kurdischen Bewegung geschieht in Küpelis Buch jedoch eher am Rande. Vielmehr geht es um eine Heranführung an verschiedene Teilaspekte des Kampfes um Kobanê.

Durch seinen Aufbau erlaubt der Band Leser*innen, nach eigener Entscheidung Distanz oder Nähe zum Thema einzunehmen und fordert letztlich auf, das eigene Bild selbst zu erstellen, anstatt ein fertiges zu liefern. Einige der Beiträge sind aus der Perspektive in Europa lebender Kurd*innen abgefasst, viele jedoch von weißen deutschen oder türkischen Autor*innen, deren Sympathien für die kurdische Bewegung offensichtlich variieren.

Lokman Turgut schreibt über die Geschichte der PKK von den 70er Jahren bis heute – eine interessante Narrative nah am Selbstverständnis der Akteur*innen, die aber letztlich ihren Focus eben nicht auf dem Aufbau eines öko-feministischen, hierarchiefreien Kommunewesens mit basisdemokratischen Strukturen hat. Demgegenüber betont Dilar Dirik die Befreiung kurdischer Frauen aus patriarchalen Strukturen als  reale Möglichkeit und Perspektive über ihre militärische Beteiligung an der Befreiung Kobanês hinaus.

Qualität und Focus der Artikel sind recht unterschiedlich

Christian Jacob von der taz schreibt über das Phänomen deutscher Solidarität mit Rojava, welches seit der Konfrontation der kurdischen YPG („Volksverteidigungseinheiten“ in Syrien) mit dem IS die traditionelle Mischung aus Berührungsängsten und Geringschätzung ablöst: „Eine ähnlich breite und offensive Spendensammlung für eine Guerilla gab es wohl seit den Hochzeiten der Sandinista- und El-Salvador-Sympathisanten in Deutschland nicht mehr“. (S. 68)

Jacob fasst zusammen, was er in der (linken) Presse über Rojava gelesen hat, und zitiert dann ausgiebig eine vom US-Heimatschutzministerium finanzierte Studie, d die als Beispiele für zivile Mordopfer der PKK Brandanschläge durch Unbekannte anführt, bei denen etwa in Ulm Geflüchtete aus Ghana und dem Tschad umkamen oder ein als „31jähriger Türke“ bezeichneter Wiesbadener (S. 71).

Nun hat die schleppende Aufklärung des NSU-Terrors belegt, wie routinemäßig deutsche Behörden bei Straftaten rassistische Motive ausschließen und „Ausländerkriminalität“ vermuten. Unbestreitbar, dass die PKK Morde an Abweichler*innen und Gegner*innen begangen (und sich im Nachhinein dafür entschuldigt) hat. Aber die zitierten Beispiele scheinen dubios. Kann das Unwohlsein über eine linke Begeisterung für den Kampf in Rojava rechtfertigen, nicht nachzuschauen, woher die zitierte Studie ihre Informationen hat? Und das bei einem professionellen Journalisten?

Wäre es nicht klüger gewesen, sich für den Band jemanden ins Boot zu holen, der die PKK aus einer antinationalen Perspektive sowohl ideologisch als auch in ihrem politischen Handeln kritisieren könnte, statt Jacob, der zu Öcalans Auseinandersetzung mit Bookchins Öko-Syndikalismus lediglich zu sagen hat, Apo habe „im türkischen Knast wohl ausschließlich Kreide“ gefressen (72) und in letzter Instanz urteilt, die kurdische Bewegung sei mit „westlichem Demokratie- und Grundrechtsverständnis unvereinbar“ (S. 74)? Dass sie dies tatsächlich ist, zeigt schon allein der jüngste Ankara-Besuch Merkels.

Alp Kayserilioğlu, Güney Işıkara und Max Zirngast analysieren kenntnis- und detailreich die Wirtschaftspolitik der AKP im Kontext von Akkumulationsstrategien und Neoliberalismus, erklären damit sowohl die liberal-demokratische Haltung der Partei in ihrer Konsolidierungsphase (S. 86) als auch den autokratischen Turn gegenüber LGBT-Bewegung, Gewerkschaften, Alevit*innen sowie die  Turbo-Gentrifizierung.

Dieser Hintergrund macht die Mobilisierung islamistischer Rhetorik und scharfe Remilitarisierung der Kurdenpolitik der AKP weitaus präziser verstehbar als geopolitische Spekulationen dies könnten. Das interdisziplinäre Autorenteam diagnostiziert der AKP eine wachsende Hegemoniekrise und liefert einen Beitrag, der für die kommende Auseinandersetzung mit dem Bürgerkrieg in der Türkei nützlich ist und sicher eine lange Halbwertzeit haben wird.

Genauso aufschlussreich sind die Interviews, die Fatma Umul mit Aktivist*innen aus dem reichhaltigen Spektrum neuer sozialer Bewegungen rund um Gezi geführt hat. Sie konzentriert sich auf die basisdemokratische und selbstreflexive Diskussionskultur der Parkforen und stellt uns Fabrikbesetzer*innen und die Konflikte innerhalb ihrer Kooperativen vor (wie viel Legalisierung und wie viel Widerstand?, S. 108), besucht ein Sozialzentrum im Stadtteil Tarlabaşı, der mit Abrissbirnen gentrifiziert wird, und spricht mit der jungen veganen, antispeziezistischen Bewegung.

Nach der Türkei wandert der Blick nach Syrien: Hannah Wettig stellt die wichtigsten Akteur*innen der Opposition in Syrien vor und Elke Dangeleit und Hans-Günther Kleff schreiben über religiöse Minderheiten in Kurdistan. Bei Wettig geht es da zunächst um die Muslimbrüder, deren heutige globale Militanz sicher auch mit der drastischen Niederschlagung ihrer Kampagnen in den 80er Jahren durch Hafiz al-Assadzu tun hat. Allein beim Hama-Massaker tötete das Regime über 40.000 Menschen. Überleben konnten Muslimbrüder nur im Exil – und von dort aus organisierten sie 2011 den syrischen Nationalrat. Hier beginnt die Geschichte des Krieges, seiner internen Zerwürfnisse und Konkurrenzkämpfe, aus denen der IS als vorläufig stärkste Fraktion hervorgehen und einen für die zivilisatorische Entwicklung der Menschheit über mehrere Jahrtausende zentralen Landstrich fast komplett verwüsten konnte.

Die Ideologie des IS analysiert Atilla Steinberger anhand der Kategorien Essentialismus, Authentizität und Kalifat.

Da die „religiösen und ethnisierten Minderheiten“ der gesamten Region „auf der endgültigen Flucht sind“ und mit der „alten kulturellen Vielfalt des Nahen Ostens“ auch „wichtige materielle und ideelle Grundlagen der Menschheit zerstört“ werden, ist die Beantwortung der Frage, „ob das Modell Rojava mit seinem alle ethnisierten und religiösen Gruppen einbeziehendem demokratischen Konföderalismus nicht die letzte Chance ist, diesem Trend noch etwas entgegenzusetzen“ (S. 142) von übergreifender Bedeutung.

Inwiefern also die kurdische Bewegung einen ehrlichen Wandel vom 70er-Jahre-ML-Befreiungsnationalismus zu einem pluralen, auf soziale Bewegungen und Selbstorganisierung setzenden Konföderalismus vollzieht, und inwiefern dieser Wandel durch die Auseinandersetzung auch mit anarchistischen Positionen an Konturen und Offenheit für andere soziale Kämpfe gewinnt, ist nicht primär von der Warte her interessant, ob uns die „neue“ PKK ideologisch überzeugt oder nicht.

Vielmehr scheint die Frage für die Zukunft menschenwürdigen Zusammenlebens im Widerstand gegen homogenisierende, gewaltförmige Herrschaftsmodelle der Post-Postmoderne von globaler Bedeutung zu sein, und dieser versucht der Band gerecht zu werden. Die kurdische Feministin Dilar Dirik erhebt ihre Stimme gegen die „Banalisierung eines radikalen Kampfes“ (S. 47) kurdischer Frauen durch ihre Objektivierung als Pin-Ups mit Kalaschnikoffs.

Sie nennt ihn einen „philosophischen Widerstand“ (S. 41) eben nicht nur gegen den „Feminizid des islamischen Staates“ (S. 40), sondern gleichzeitig gegen die „hypermaskuline Militärstruktur“ des NATO-Mitglieds Türkei, und letztlich auch gegen die fatale Verkürzung auf hübsche Frauen mit Knarren und offenen Haaren durch einen (weltweit vorhandenen) Blick, der egozentrische Aktionen als radikal feiert und „extremen Individualismus und Konsum als Emanzipation betrachtet“ (S. 47). Dank solcher Beiträge gelingt es dem Herausgeber Küpeli, einen weiten Bogen zu spannen, der jenseits der trivialen Pro-Contra-Streitereien einer ebenfalls egozentrischen linken Szene Materialien für eine je eigene Auseinandersetzung mit diesem wichtigen Thema liefert.

Aufgrund der Entscheidung, auf der Website der Publikation regelmäßig aktuelle und neue Texte zur Verfügung zu stellen, ragt diese Auseinandersetzung auch in die Zukunft hinein. (Die Rezension erschien erstmals in der Graswurzelrevolution Nr. 404, Dezember 2015 www.graswurzel.net)

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