Recht ungleich Gerechtigkeit – Die historische Dimension moderner Flüchtlingsproteste
Recht ungleich Gerechtigkeit – Die historische Dimension moderner Flüchtlingsproteste

Recht ungleich Gerechtigkeit – Die historische Dimension moderner Flüchtlingsproteste

Ein Beitrag von Fabio Reinhardt

Das Thema Asyl und die Rechte von Flüchtlingen ist seit einigen Jahren spürbar stärker in die Öffentlichkeit gerückt. Immer  mehr Menschen beschäftigen sich damit, immer mehr Politiker_innen sind damit befasst oder kennen zumindest grob die rechtlichen oder  gesellschaftlichen Hintergründe. Das liegt vor allem an den  selbstbestimmten Protesten, die seit dem Jahr 2012 verstärkt stattfinden  und die Gesellschaft zwingen, sie als Thema zu akzeptieren. Dass es vorher eher ein Orchideendasein unter den vielen politischen Bereichen fristete, ließ sich an mehreren Dingen bemerken. Im Parlament merkte man es daran, dass Flüchtlingsfragen in zahlreichen verschiedenen Themenbereichen beheimatet sind und kein Regierungsmitglied zentral verantwortlich  ist. In Berlin beispielsweise ist für Aufenthaltsrecht und alle  polizeilichen Fragen der Innensenator zuständig. Für die  Unterbringungsfragen ist es der  Sozialsenator. Ansprechpartnerin für alle arbeitsrechtlichen Fragen und  für gefühlt alles andere ist die Integrationssenatorin. In anderen  Bundesländern und im Bund sieht es ähnlich konfus aus.

Unzuständige Behörden, akzeptanzfreie Gesetze

Ähnlich  unwillig, konkret Verantwortung zu übernehmen sind die zuständigen  Behörden. Diese haben in den letzten Jahren eine spektakuläre  Fähigkeit  darin entwickelt, jegliche Entscheidungskompetenz von sich zu weisen  und stattdessen auf „die bestehende Gesetzeslage“ zu verweisen. Und so  sind Flüchtlinge in ihrem täglichen Kampf weniger mit bekennden Gegnern  und stattdessen vor allem mit Verwaltungsvorschriften und Auflagen  konfrontiert. Gehe es um Unterbringungsfragen, Versammlungs-, oder  Aufenthaltsrecht. Ganz deutsche Verwaltung eben, könnte man meinen.  Wirklich problematisch wird es jedoch, wenn die zuständigen   Regierungsmitglieder – allen voran Berliner Innensenator Henkel und   Innenminister Friedrich und De Maizière   – sich extrem viel Mühe gegeben, dieses Verhalten ihrer eigenen   Verwaltung zu imitieren. Frei nach dem Motto: Es gibt doch Gesetze und die müssen für alle gelten. Diese Verweigerung, Politik zu gestalten,  mündet in der Betonung, es könne für Gruppen protestierender Flüchtlinge keine Ausnahmen geben, Deutschland habe doch ein funktionierendes Asylsystem und nehme zudem mehr Menschen auf als die Nachbarländer (wobei man sich unwillkürlich fragt, ob damit Luxemburg mitgemeint ist). Wozu wird also derart ausdauernd und vehement protestiert, wenn es doch klare Regeln gibt, die für alle gelten? Schließlich gibt es ja auch keine ständigen Proteste gegen Strafen für Bei-Rot-über-die-Ampel-gehen.

Gesetze sind verschriftlichte gemeinsame Werte

Um diese Frage zu beantworten muss wohl noch  einmal gefragt werden, was  überhaupt Gesetze sind. Unbestritten braucht die Gesellschaft  eine gemeinsame  Werteordnung. Die Gesetze sind der  verschriftlichte und ins Allgemeine  übertragene Wille der Gemeinschaft,  nach dieser gemeinsamen Werteordnung  zu leben. Aus diesen verschriftlichten Gesetzen leitet sich die  gesellschaftliche Ordnung ab.  Der Satz „Aber es gibt doch Gesetze!“ in  einer Situation, in der die  Ungerechtigkeit himmelschreiend ist,  verkehrt den Sinn einer  gesellschaftlichen Ordnung in ihr Gegenteil. Ihr  Sinn ist nicht ihre  Existenz um ihrer Selbst willen, sondern die gesellschaftliche Interpretation von  Gerechtigkeit und Gemeinsinn in kodifizierte Form zu gießen.  Ihre  wichtigste Legitimation ist Akzeptanz. Und genau diese fehlt in diesem Fall. Die  Akzeptanz derjenigen, die von von der aktuellen Asylgesetzgebung   überhaupt nicht betroffen sind, kann höchstens über den Umweg des Nichtinteresses vorausgesetzt werden. Die Akzeptanz derjenigen aber,  für  die dieses Gesetze gemacht werden, fehlt gänzlich. Kein Wunder, dass die Betroffenen immer weniger bereit sind, die bestehende Gesetzeslage zu akzeptieren und immer häufiger dagegen auf die Straße gehen.

Nichts zu verlieren – Die Bereitschaft zum Protest nimmt zu

Nach Schätzungen der Flüchtlingshilfeorganisation UNHCR sind aktuell etwa 50  Millionen Menschen auf der Flucht. Die wenigsten davon in Europa. Möglicherweise existiert hierzulande  deswegen wenig Bewusstsein für die Leiden, Kämpfe und  Hoffnungen dieser Menschen. Zumindest sind die europäischen Asylgesetze dementsprechend restriktiv. Doch mittlerweile nehmen die Proteste gegen die Asylgesetzgebung in Deutschland und  anderen europäischen Ländern zu. Und erstmalig werden sie von denjenigen Menschen selbst getragen, die von der diskriminierenden Gesetzgebung betroffen sind: den Geflüchteten. Das heißt, die am stärksten ausgegrenzte und benachteiligte Gruppe  emanzipiert sich selbst und nimmt ihr Schicksal im Konflikt um die  eigene Perspektive selbst in die Hände. Der Soziologe Peter Ullrich beschreibt dies als „die Selbstermächtigung von Menschen, die in der  gesellschaftlichen Macht- und Wohlstandspyramide ganz unten stehen, mit  den geringsten Beteiligungschancen und den größten Restriktionen. Damit  haben sie die schlechtesten Bedingungen, sich politisch zu engagieren.“  Dass sie es nun dennoch tun, nennt er eine bemerkenswerte Entwicklung.

Zur Historie lässt sich sagen, dass sich bereits 2011 einige hundert  Flüchtlinge unter dem Slogan „Abolish – diskriminierende Gesetze gegen  Flüchtlinge abschaffen“ zum Protest und zur Konferenz in Berlin trafen.  Die auch von Berliner Piraten unterstützten Aktivitäten blieben  politisch weitgehend konsequenz-, aber nicht folgelos. Nach dem Selbstmord des Iraners Mohammad R. in einer Würzburger Flüchtlingsunterkunft begannen ab März 2012 rund 10 Asylsuchende einen Protest im Würzburger Stadtzentrum unter den Titeln „GUStreik“ und „Iranische Flüchtlinge im Hungerstreik“. Von dort breiteten sich die Proteste aus und auch verschiedene Protestformen wurden ausprobiert. Die Behörden machten sich weitgehend erfolgreich daran, die Demonstrationen weniger sichtbar werden zu lassen. Im Vordergrund stand dabei die Ablehnung der Zuständigkeit, der Verweis auf die Bundesebene und  das Pochen auf formal- und ordnungsrechtliche Fragen bezüglich des  Protests. Dazu gehörte auch die gewaltsame Räumung des Protestcamps auf  dem Münchener Rindermarkt. Aufgrund der mangelnden Außenwirkung  wurde der Gedanke stärker, dass man die Proteste nach Berlin verlegen  müsse, da dort die Verantwortlichen für die deutsche Asylgesetzgebung  sitzen. Es folgten 2012 der Refugee Protest March nach Berlin und das Protestcamp am  Oranienplatz. Am Samstag, den 13. Oktober 2012, kam es in Berlin mit 6.000 Teilnehmer_innen  zu der bis dahin größten Demonstration für die Rechte von Flüchtlingen  und Asylsuchenden in der Bundesrepublik. Es folgten Hungerstreiks auf  dem Pariser Platz am Brandenburger Tor und anderen Orten. 2014 folgte  ein Protestmarsch nach Brüssel mit vielen Stationen. Die Proteste lassen  sich auf auf Wikipedia auch gut nachvollziehen.

Konflikt zwischen politischen Erfolgen und faktischen Konsquenzen

Mittlerweile  haben die Proteste einiges an Erfolgen vorzuweisen. Schon die Tatsache,  dass eine ehemalige Schule in Kreuzberg jüngst mehrere Wochen unter polizeilicher Belagerung stand, aber letztlich doch nicht geräumt,  sondern ein wie auch immer interpretierbarer Kompromiss geschlossen  wurde, ist ein politischer Erfolg. Zudem  blockierte Anfang des Jahres die SPD im Berliner Senat das Anliegen des  CDU-Innenministers Frank Henkel, die Zelte auf dem Kreuzberger  Oranienplatz gewaltsam gegen den Willen des Bezirks räumen zu lassen. Es folgten Gespräche zwischen  der Integrationssenatorin und Flüchtlingen, die zumindest eine Weile  durchaus auf Augenhöhe stattfanden und die das Ziel hatten, einen für  alle Seiten annehmbaren Kompromiss zu finden. Diese mündeten im April  zwischenzeitig in einer Regierungserklärung des Regierenden  Bürgermeisters, in der er deutliche Sympathie mit den Forderungen der  Flüchtlinge durchscheinen ließ. Auch auf Bundesebene haben die Proteste  schon Wirkung gezeigt. Immerhin kam es 2012 zu einer Begegnung von hungerstreikenden Flüchtlingen mit der damaligen Bundesmigrationsauftragten Maria Böhmer. Leider sind die politischen Auswirkungen überschaubar: Zwar soll laut Koalitionsvertrag die Dauer des Arbeitsverbots für Asylbewerber von neun auf drei Monate gesenkt werden, aber das Problem des Nachrangigkeitsgebots, das die wesentlich schwerwiegendere Einschränkung für nicht-deutsche Arbeitssuchende bedeutet, bleibt bestehen.

Der  Konflikt zwischen den Erfolgen und den politischen Auswirkungen wurde  eine Weile lang dadurch kompensiert, dass eine größere dreistellige Zahl  von politisch aktiven Flüchtlingen mit den Nachwirkungen des  sogenannten Oranienplatz-Kompromisses und mit komplizierten bürokratischen Verfahren beschäftigt war. Nun wo offensichtlich ist, dass in so gut wie allen Fällen am Ende der vom  Senat zugesagten Einzelfallprüfungen die gefürchtete Abschiebung in das  Ursprungsland steht  werden die Proteste jedoch wieder deutlich zunehmen. Zudem zieht es  immer mehr Flüchtlinge aus anderen Bundesländern wie Sachsen-Anhalt oder Bayern in die  Entscheidungszentrale Berlin.

Rechtmäßiger Kampf gegen unrechtmäßiges Recht

Am  vergangenen Mittwoch war ich selbst mit dabei, als eine Gruppe von  Flüchtlingen aus verschiedenen Bundesländern in der Kuppel des  Fernsehturms versuchte, auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Dabei hatte  ich ein interessantes Gespräch mit einem Mitarbeiter des Fernsehturms.  Dieser war dankbar, dass die Situation ohne weitere Eskalation  ausgegangen ist. Und er fügte hinzu: „Aber man muss sich natürlich schon  an Recht und Gesetz halten.“ Die Flüchtlinge hatten sich nicht an Recht  und Gesetz gehalten. Sie hatten sich im Restaurant auf den Boden  gesetzt und verlangt, die Verantwortlichen für die deutschen Asylgesetze  zu sprechen. Dafür bekamen sie Anzeigen wegen Hausfriedensbruch (die  allerdings später wieder zurück genommen wurden) und wegen Widerstands  gegen die Staatsgewalt. Diese Aussage brachte mich ins Grübeln. Denn die  Flüchtlinge selbst sehen sich im legitimen Kampf gegen ungerechte  Gesetze – quasi  gegen unrechtmäßiges Recht. Sie sind unverschuldet und nur aufgrund  ihrer Herkunft aus so gut wie allen maßgeblichen Entscheidungsprozessen  ausgeschlossen. Sie dürfen nicht arbeiten, sich nicht weiterbilden und  wohnen in Unterkünften fernab anstatt in eigenen  Wohnungen. Ihnen fehlt jede Perspektive der Entwicklung. Am Ende steht im aller Regel die Ablehnung des Verfahrens und die Abschiebung. Richtig  absurd wird es, wenn sie zu Geduldeten werden – zu Menschen, deren Abschiebung zwar nicht zu verantworten sei, die aber dennoch auf ewig auf ihre Aufenthaltserlaubnis warten müssen.

Dazu kommt: Sie dürfen die Politiker_innen, die die für sie zuständigen  Gesetze verabschieden, nicht mitwählen. Und die Einschränkungen der  Bewegungsfreiheit durch die Residenzpflicht lässt es oft nicht einmal zu, dass sie dauerhaft und offen ihrem Unmut in Berlin Luft machen können.  Die Konsequenz aus dieser Schikanenkombination: Sie können diese  Gesetze nicht als rechtmäßig anerkennen, weil sie darin keinen Sinn  erkennen können,  außer dem ihrer eigenen willkürlichen Ausgrenzung. Es gibt – zurecht –  keinerlei Bereitschaft, diese Gesetze anzuerkennen. Dazu kommt: Es gibt  für sie nichts oder wenig zu verlieren. Dadurch steigt die Bereitschaft,  die aus ihrer Sicht absurden und diskriminierenden Gesetze  herauszufordern, sichtbar abzulehnen und sich in ihrem Protest im  Zweifel auch zu radikalisieren.

Die  Flüchtlinge, die ich im Fernsehturm traf und die mittlerweile an weiteren Plätzen in Berlin protestieren, haben über Jahre immer wieder das gleiche   Muster bei Menschen in ihrer Umgebung beobachtet: Dahinvegetieren in  der  Sammelunterkunft in der Peripherie, Ablehnung des Asylantrags,   Widerspruch und erneute Ablehnung. Was bleibt ist die Auswahl zwischen   Selbstmord, Abschiebung – was viele von ihnen auch als staatlich verordneten Mord empfinden – oder  der Gang in die Illegalität. Sie können hinter den bürokratischen  Verfahren weder Logik noch Gerechtigkeit entdecken. Schließlich ist das   Ergebnis immer das Gleiche: Kaum   jemand, dem man das deutsche Asylverfahren erklärt, kann sich dafür   erwärmen. Das ganze System basiert auf Abschottung und Abschiebung.   Akzeptanz kann so nicht entstehen. Genau deswegen verbirgt es sich auch vor der Öffentlichkeit.

Die Proteste gehen weiter, die Bewegung wird wachsen

Solange  die verantwortlichen Politiker_innen weiterhin so tun, als wären alle Gesetze gut, solange sie nur richtig buchstabiert sind und auf die korrekten Paragraphen verweisen, und solange Behörden versuchen, Flüchtlinge mit bürokratischen Verfahren in Schach zu halten, wird der Konflikt weiter schwelen. So lange bis die eine Seite, mitgezogen durch den gesamtgesellschaftlichen  Rechtstrend, fordern wird, man möge doch härter vorgehen gegen  diejenigen, die „Recht und Gesetz nicht anerkennen“. Das wird dann  möglicherweise der Zeitpunkt sein, wenn sich Teile der Proteste  radikalisieren. In jedem Fall aber werden sich ihnen immer mehr Menschen  anschließen und es wird eine noch größere Bewegung, als es jetzt schon  der Fall ist. Und dann wird das nicht mehr erreicht werden, was  jahrzehntelang wichtigstes Ziel der Asylpolitik war: Wegducken,  wegsperren, ausblenden. Wenn die  Proteste erst derart sichtbar geworden  sind, dass sie auch für „Normalbürger“ nicht mehr aus dem Alltag  auszublenden sind, dann wird auch die Solidarität wachsen, zumindest  aber wird der Druck wachsen, grundsätzliche Veränderungen nicht mehr  kategorisch auszuschließen.

Historische Dimension wird (noch) nicht erkannt

Die  Bewegung der Flüchtlinge oder auch der Papierlosen für ihre Rechte  steuert in diesen Tagen auf eine historische Dimension zu: Auf einen  gesamtgesellschaftlichen Konflikt, an dem sich Trennlinien und  Wegscheiden der Zukunft aufzeichnen werden. Hier wird die Frage nach Solidarität in der Gesellschaft gestellt und wie weit die Bereitschaft geht, an gesellschaftlichen Fortschritten und Wohlstand auch gefühlt Fremde partizipieren zu lassen. Die Tragweite ist vielleicht erst erkennbar, wenn man die Situation mit den Kämpfen der Arbeiterbewegung oder mit denen der Frauenbewegung  vergleicht. Und genau so wie diese ihren Kampf nicht nur ein paar Jahre, sondern über  Jahrzehnte kämpfen mussten, um Fortschritte zu erreichen, ist auch kein  schnelles Ende des aktuellen Kampfes erkennbar. Vielleicht kann auch gar  kein Ende erreicht werden. Weil es ein ewiger Kampf der Gesellschaft um sich selbst und um ihre eigene Seele ist, der hier ausgetragen wird. Die Zeit wird es zeigen.

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