„Wenn du den Feind und dich selbst kennst…“
„Wenn du den Feind und dich selbst kennst…“

„Wenn du den Feind und dich selbst kennst…“

Rechtsanwälte und Bürger*innen demonstrierten am 30.05.2015 vor dem Bundeskanzleramt gegen Totalüberwachung Foto: Rainer Thiem

Ein Gastbeitrag von Simon Schaupp

Von der Massenüberwachung zur Selbstüberwachung und zurück

Das Ausspionieren politischer Gegner_innen ist beinahe ebenso alt wie die Politik selbst. Schon das älteste Militärhandbuch der Welt, Sunzis „Die Kunst des Kriege“ aus dem 6. Jahrhundert v. Chr., weist die Spionage als einen der sechs Grundpfeiler erfolgreicher Kriegsführung aus. „Wenn du den Feind und dich selbst kennst, brauchst du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten“, heißt es dort. Neben dem bloßen Informationsgewinn hat die Überwachung immer auch eine Disziplinarfunktion erfüllt. Wenn wir wissen, dass wir beobachtet werden, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass wir uns so verhalten wie es von uns erwartet wird.

Der Google-Manager und Obama-Berater Eric Schmidt brachte dieses Verhältnis mit folgenden programmatischen Worten auf den Punkt: „Wenn es etwas gibt, von dem Sie nicht wollen, dass irgendwer es über Sie weiß, dann sollten Sie es vielleicht erst gar nicht tun.“

Diese Disziplinarfunktion der Überwachung beschreibt auch George Orwell wenn es in seinem totalitären Staat von 1984 keine Subversion mehr gibt, weil die „Televisoren“, die allgegenwärtigen Kommunikations- und Unterhaltungsgeräte, potentiell zurückschauen: „Es war ein Rätsel, wie oft oder auf welchem System eines Individuums sich die Gedankenpolizei einwählte. Man musste mit der Annahme leben – lebte mit der Annahme, die zum Instinkt wurde – dass jedes Geräusch, das man machte, mitgehört und, außer bei Dunkelheit, jede Bewegung registriert wurde.“

Die Televisoren sind Multifunktionsgeräte. In Gestalt eines Bildschirms sind sie gleichzeitig Fernseher, Uhr, Telefon, Fitnesstrainer und vieles mehr. Also das, was wir heute Smartphone nennen. Mit dem Unterschied, dass wir heute unseren „Televisor“ mit uns herumtragen und freiwillig mit Informationen füttern, die auch die ausgefeilteste Überwachungstechnologie nicht gegen unseren Willen ermitteln könnte. Hierin liegt die neue Qualität von Überwachung, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten ausgebildet hat: Wir überwachen uns selbst. Und zwar mit einer Leidenschaft, die jeden Blockwart alt aussehen lässt. Während in 1984 auf das Führen eines Tagebuchs die Todesstrafe steht, machen wir uns heute geradezu verdächtig, wenn wir unser Leben nicht minutiös, und zwar bitte mit audiovisuellem Material unterlegt, auf der Website mit dem blauen Daumen dokumentieren.

Das quantifizierte Selbst

Aber auch Facebooks Röntgenstrahlen gehen vielen transparenten Bürger_innen schon lange nicht mehr tief genug. Wer sich wirklich bis auf die Knochen durchleuchten will, schließt sich heute der boomenden „Quantified-Self“-Bewegung an. Das erklärte Ziel dieser Bewegung ist die „Selbsterkenntnis durch Zahlen“. Diese soll erreicht werden, indem das eigene Leben mittels automatisierter digitaler Überwachung vermessen und ausgewertet wird. Begonnen hat der Trend mit den Schrittzählern für Jogger_innen, die mittlerweile meist als App ins Smartphone integriert sind, und neben den Schritten auch die Herzfrequenz, verbrauchte Kalorien und allerlei mehr zählen. Da das Smartphone ja gleichzeitig auch MP3-Player, GPS-Peilsender, Wetterstation, Tagebuch und vieles mehr ist, können dabei allerlei Daten korreliert werden. So kann ich nach wenigen Runden erfahren, dass ich die beste Leistung erziele, wenn ich bei 16 Grad im Wald laufe, die Toten Hosen höre, in melancholischer Stimmung bin und die letzte Mahlzeit zwei Stunden zurückliegt. Diese Daten können dann ins Facebook-Profil integriert werden oder auf der Website des jeweiligen Anbieters z.B. in Rankings angezeigt werden. Tue ich das, so kann meine Joggingroute live mitverfolgt werden und meine Freund_innen können mich per Facebook anfeuern – was mir über die Kopfhörer meines Smartphones als frenetischer Applaus eingespielt wird.

Auf der Jagd nach Produktivitätsorden

Dieses sogenannte Self-Tracking ist längst nicht mehr auf den Sport beschränkt. Beliebt ist beispielsweise auch die Zeitmanagement-Software. Diese misst wie viel Zeit die Nutzer_innen mit verschiedenen Tätigkeiten verbringen und errechnet auf dieser Grundlage, wie „effizient“ sie dabei sind – und wo sie sich verbessern sollten. Die größten Anbieter von Zeitmanagement-Software sind RescueTime und TimeDoctor. Alleine RescueTime wird von knapp einer Million Personen genutzt. Den Nutzer_innen werden statistische Auswertungen ihrer Aktivitäten am Computer geliefert. Diese Statistiken werden in sogenannte „Produktivitäts-Punkte“ umgerechnet, die dann mit anderen Nutzer_innen in Rankings verglichen werden können. Unter diesen sind dann Kommentare zu lesen wie: „Ich schlafe durchschnittlich nur vier Stunden und 48 Minuten, aber ich habe immer noch zu wenig Zeit. Was soll ich tun?“ Außerdem verfügen die Programme über „Motivationshilfen“ wie Alarme, die ausgelöst werden, wenn zu viel Zeit auf eine bestimmte Aufgabe verwendet wird, oder virtuelle „Orden“, die für Hochleistungen freigeschaltet werden. Darüber hinaus können bestimmte „ablenkende“ Webseiten gesperrt werden, so lange nicht ein bestimmtes Maß an Arbeit geleistet wurde. Die sogenannten „Team-Versionen“ der Programme können zudem von Vorgesetzten dazu genutzt werden, genau zu überwachen, was ihre Untergebenen wann tun und ihnen gegebenenfalls mit der sogenannten „nudge“-Funktion mitteilen, dass ihre mangelhafte Produktivität bemerkt wurde.

Rating-Agenturen für Privatpersonen

Das Einsortiertwerden in Rankings ist ein wesentlicher Bestandteil des Self-Trackings. Einige Anwendungen sind sogar ausschließlich darauf ausgerichtet – eine Art Rating-Agenturen für Privatpersonen. „Wenn Reputationskapital die neue Währung der Online-Interaktionen ist, dann müssen Sie wissen, was Sie im Geldbeutel haben“, wirbt etwa Trustcloud. Anwendungen wie diese analysieren die digitale Kommunikation ihrer Nutzer_innen und die Reaktionen auf deren Online-Verhalten. Dabei wird beispielsweise untersucht, welche Worte sie verwenden und wie schnell sie auf Nachrichten reagieren, um eine Punktzahl zu berechnen, die ihre Vertrauenswürdigkeit oder ihren Einfluss angeben soll. Die Firma Klout gibt an, dass ihre geheimen Algorithmen solch eine Punktzahl bereits für 620 Millionen Personen berechnet hätten und dabei täglich 12 Milliarden „soziale Signale“ aus dem Internet auswerten. „Das macht wirklich etwas mit Ihrem Leben!“, freut sich der Gründer von Klout in einem Interview. „Menschen setzen ihre Klout-Punktzahl unter ihren Lebenslauf und Personalabteilungen fragen bei uns nach.“ Sogar Hotels in Las Vegas würden beim Check-In automatisch das System von Klout über ihre Kund_innen abfragen und ihnen bessere Zimmer bereitstellen, wenn ihre Klout-Punktzahl hoch sei. Besonders brisant ist dabei, dass Klout anfangs nicht nur diejenigen Personen bewertet hat, die dort willentlich ein Profil erstellen, sondern auch deren gesamten digitalen Freundeskreis, um herauszufinden, ob die Bewerteten „lohnende“ Kontakte haben oder nicht. Nachdem so auch zahlreiche Bewertungen für Minderjährige entstanden, musste das Feature abgeschaltet werden.

Soldatische Ernährungs-Disziplin

Zum Standardrepertoire des Self-Trackings gehört auch das Ernährungs-Tracking, bei dem per Smartphone jegliche Nahrungsaufnahme protokolliert wird. Am besten funktioniert das bei Fertiggerichten, weil dann nur QR-Codes eingescannt werden müssen, damit die gesamte Nährwert-Tabelle sofort auf dem Smartphone landet. Bei anderen Apps wird die Mahlzeit abfotografiert und dann per automatische Bilderkennung ausgewertet. Sobald die Kaloriengrenze erreicht ist, schlägt die Anwendung Alarm und präsentiert sofort einen alternativen Ernährungsplan. Diese digitale Variante des Diättagebuchs wird von der Firma Weightwatchers unter dem Slogan „abnehmen wie ein Mann“ vertrieben. Im Werbevideo erklärt ein US-Soldat wie er durch das Ernährungstracking zum Vorbild für seine Männer wurde. Tatsächlich ist das Bild des Soldaten im Self-Tracking sehr präsent. Fast alle Anwendungen arbeiten mit virtuellen „Orden“ und auffällig oft ist die Werbung mit Bildern von Muskelmännern in kämpferischen Posen illustriert. So wird an die Selbstdisziplinierung appelliert, die ja das wesentliche Ziel des Self-Tracking ist.

Die militärische Komponente bleibt beim Übergang von der Spionage zur Selbstüberwachung also offensichtlich erhalten. Fast scheint es sogar so als würde Sunzis Aphorismus „Wenn du den Feind und dich selbst kennst…“ erst im Self-Tracking seine volle Wahrheit finden. Möglicherweise müsste er aber auch umformuliert werden: „Wenn du den Feind, also dich selbst kennst…“ Denn im Self-Tracking verschmelzen Polizei und Verdächtige_r zu einer Person, die sich selbst mit allen zur Verfügung stehenden technischen Mitteln ausspioniert. Jede versäumte Joggingrunde, jede überzählige Kalorie, jede verträumte Minute Arbeitszeit wird registriert und angemahnt, um nicht vor sich selbst in den Verdacht zu geraten, das Kapitalverbrechen der Leistungsgesellschaft zu begehen: Nicht das Maximum aus sich herauszuholen. So wirbt die Firma Tictrac damit „ein vollständiges Bild darüber zur Verfügung zu stellen, was nötig ist, Erfolg zu maximieren.“ TicTrac nennt sich selbst eine „Self-Tracking Universalplattform“, das heißt dort können Daten aus den verschiedensten Quellen wie Zeitmanagement-Software, Bewegungssensoren, digitalen Waagen, Kalendern, Emailprogrammen und Diät-Apps zusammengeführt und miteinander korreliert werden, um beispielsweise den Zusammenhang zwischen Kaffeekonsum und Produktivität zu berechnen.

Alles eine Frage des Managements

Es sieht aber keineswegs danach aus, als würde die Selbstüberwachung die hierarchische Fremdüberwachung ablösen. Viele Self-Tracking-Technologien können ohne weiteres im Kontext eines Unternehmens zur Kontrolle der Arbeiter_innen verwendet werden, wie bei der Zeitmanagement-Software: „RescueTime ist eine Aufklärungsanwendung für Firmen, die Manager informiert hält über ihre wertvollste Ressource“, heißt es auf der Website. „Es schafft eine unübertroffene Kultur der Arbeitsplatz-Transparenz.“ Im Grunde können die meisten Self-Tracking-Anwendungen als Humankapital-Management-Technologien verstanden werden. Ob dieses Humankapital nun von einem Großkonzern, einem Staat, oder einem einzelnen „Unternehmer seiner Selbst“ (Foucault) verwaltet wird – die buchhalterische Logik bleibt dieselbe. Im Self-Tracking geht es ebenso wie im Human-Ressource-Management oder in der Arbeitslosenstatistik darum, menschliches Handeln zu vermessen und damit regierbar zu machen. Ebenso wie für jeden Konzern ist es für den „Unternehmer seiner Selbst“ nur dann möglich, der allgegenwärtigen Anforderung nach der Optimierung seines Outputs nachzukommen, wenn er über buchhalterische Informationen über sein Unternehmen, also sich selbst, verfügt. So kann der Boom des Self-Trackings verstanden werden als Ausdruck eines ökonomischen Verhältnisses zu sich selbst. Wenn die Humankapitalist_in Sport treibt, so muss sie wissen, wie viel Zeit sie dafür benötigt, wie viele Kalorien sie dabei verbrennt, wann und wie oft sie trainieren muss, um den besten Output zu erzielen usw.. Dieser ökonomische Selbstbezug beschränkt sich keineswegs auf die klassische Sphäre der Arbeit. Jede Lebensäußerung vom Sex bis zur Gesundheit muss in ökonomischen Begrifflichkeiten verstanden werden. „Wir machen Gesundheit messbar“, wirbt ein Anbieter des sogenannten Bio-Tracking, bei dem Speichelproben ausgewertet werden. „Denn man kann nur managen, was man auch messen kann.“ Auch Regierungsstellen scheinen ein Interesse daran zu haben, ein solches ökonomisches Selbstverhältnis zu wecken. So schlug das Britische Gesundheitsministerium Ärzt_innen unlängst vor, ihren Patient_innen Self-Tracking Anwendungen zu verschreiben, „damit diese in die Lage versetzt werden, ihre Gesundheit effektiver zu überwachen und zu managen und so mehr Verantwortung für ihre Gesundheit übernehmen.“

Diese Logik der Individualisierung von Verantwortung gefällt natürlich auch den Krankenkassen. Viele haben bereits begonnen, Self-Tracking Bonusprogramme einzuführen, bei denen Vergünstigungen winken, wenn per lückenloser Statistik ein tadelloser Lebenswandel nachgewiesen werden kann. Die AOK hat sogar bereits begonnen, eigene Self-Tracking-Anwendungen zu entwickeln. Aber das ist natürlich alles völlig freiwillig, wer nicht will, zahlt eben mehr. Die Europäsche Kommission geht davon aus, dass bis 2017 3,4 Milliarden Menschen weltweit ein Smartphone besitzen werden und jede_r zweite von ihnen auch Gesundheitstracking-Apps verwenden wird. Von diesem Trend verspricht sich die Kommission immense Einsparungen für die schrumpfenden Gesundheitsbudgets der EU-Staaten.

Zwischen Überwachung und Manipulation

Offensichtlich haben also nicht nur die betreffenden Personen selbst ein Interesse an den Buchhaltungsdaten ihres Körpers. Tatsächlich beinhalten fast alle Self-Tracking-Anwendungen, auch wenn sie für ihre Anwender_innen nicht als Fremdüberwachungstechnologien nutzbar sind, eine Dimension der Fremdkontrolle. Denn die mit ihnen erhobenen Daten sind stets erst dann für die Nutzer_in einseh- und auswertbar, wenn sie auf die Server der jeweiligen Firma hochgeladen wurden. Meist sehen die jeweiligen AGBs auch vor, dass die Anwendung keineswegs nur diejenigen Daten erheben darf, die der Nutzer_in am Ende angezeigt werden, sondern beispielsweise auch Informationen über die Geräte, auf denen sie installiert werden. Daraus kann z.B. hervorgehen, welche anderen Programme auf dem Gerät installiert sind, mit wem die Nutzer_in wie oft Kontakt hat, welche Musik sie hört usw. Die ermittelten Daten gehen in den Besitz der Self-Tracking-Firmen über und werden von diesen üblicherweise weiterverkauft. Sie weisen normalerweise wenige Erhebungsfehler auf, weil sie ja unter der eifrigen Mitwirkung der Nutzer_innen entstehen, die jede Fehlinterpretation korrigieren. Sie können je nach Art des Trackings von der aktuellen Joggingroute, über die Häufigkeit sexueller Kontakte bis zu minutiösen Protokollen aller Aktivitäten am Computer oder Smartphone reichen. Aus einer solchen Dichte intimster Informationen können mehr oder weniger genaue psychologische Profile erstellt werden, mittels derer die betreffende Person nicht nur mit passgenauer Werbung adressiert, sondern auch manipuliert werden kann. In diesem Bereich der smartphonebasierten Werbung werden dieses Jahr laut Financial Times Investitionen von 60 Mrd. US-Dollar erwartet. Bis zum Jahr 2018 wird ein Wachstum der Branche auf 160 Mrd. Dollar prognostiziert – ein Viertel der weltweiten Werbungsausgaben.

Big Data

Durch derart exzessive Selbst- und Fremdüberwachung wie sie mit dem Internet üblich geworden ist, verdoppelt sich das weltweit gespeicherte Datenvolumen alle zwei Jahre. Infolgedessen macht das klassische Abhören oder Observieren nur noch einen winzigen Bruchteil der Überwachungspraxen aus. Selbst wenn jede_r von uns einen Marktforscher und eine Polizistin zugeteilt bekäme – sie wären mit der Auswertung all den Datenspuren, die wir beim Einkaufen, Telefonieren, Autofahren und beim Surfen im Internet hinterlassen, heillos überfordert.

Deshalb läuft Überwachung unter diesen „Big-Data“-Bedingungen fast ausschließlich automatisiert ab. Sowohl Massen- als auch Einzelüberwachung besteht nunmehr hauptsächlich aus der Zusammenführung von riesigen Datenbergen aus unterschiedlichsten Quellen und deren automatischer Untersuchung auf Muster. So können ebenso Profile einzelner Personen erstellt, wie politische Großwetterlagen berechnet werden.

Oft geht es dabei nicht mehr nur um das Überwachen eines Ist-Zustandes, sondern um die Überwachung der Zukunft. Die Frage ist nicht mehr, was Kunde X kaufen will, sondern was er in Zukunft kaufen wollen wird; nicht mehr, wo es politische Unruhen gibt, sondern wo es diese in Zukunft geben wird. Im Polizeijargon wird das „predictive policing“ genannt. Dabei wird aus allerlei Daten aus Sozialen Netzwerken, Wetterberichten, aber auch aus der Höhe der im Umlauf befindlichen Geldsumme berechnet, wo das nächste Verbrechen geschehen wird. In den USA benutzen bereits über 70 Prozent der Polizeidienststellen entsprechende Software und auch in Deutschland wurde sie mancherorts bereits eingeführt, um die Patrouillenrouten von Streifenwagen zu optimieren. Das Verfahren ist aus der Epidemiologie bekannt: Dort wird z.B. aus Twitter-Nachrichten oder Google-Suchanfragen auf die Ausbreitung von Grippewellen geschlossen, um vorbeugende Maßnahmen ergreifen zu können. Nach demselben Prinzip funktioniert auch das Krisen- oder Riot-Forecasting, mit dem Regierungen und Unternehmen politische Unruhen vorausberechnen und somit präventiv bekämpfen können. In einem Spiegel-Bericht zur algorithmischen Vorhersage des Arabischen Frühlings heißt es dazu verständnisvoll: „Für viele in der Region tätige Unternehmen war der Arabische Frühling ein Schock. Seine Auswirkungen dürften für sie mit denen eines Vulkanausbruchs vergleichbar sein: Auf lange Sicht mag die Asche den Boden fruchtbar machen, kurzfristig jedoch zerstört sie alles Leben.“

Das Regieren der Zukunft

Es wäre jedoch ein Missverständnis zu glauben, es ginge bei dieser Art der Prognostik darum, die Zukunft exakt vorauszusagen. Die manipulierende Marktforschung oder das predictive policing zielt nicht darauf ab, richtige Erkenntnisse über die Zukunft zu gewinnen, sondern darauf, diese bereits im Voraus regierbar zu machen.

Es geht nicht um die Vorhersage der Zukunft, sondern um die Reproduktion der Vergangenheit. Relevant ist nicht mehr die Wahrheit einer Information, sondern ihre Nützlichkeit. Tatsächlich erweist sich unter diesen Bedingungen die Voraussage eines Verbrechens immer als wahr. Wenn es tatsächlich dazu kommt, ist das ein Beweis dafür, dass das Programm funktioniert, weil es korrekte Berechnungen angestellt hat; wenn es nicht dazu kommt, ist das ein Beweis dafür, dass das Programm funktioniert, weil das Verbrechen aufgrund der Vorhersage verhindert werden konnte.

Überwachung, auch Selbstüberwachung, zielt stets darauf ab, den Gegenstand regierbar zu machen, sei es ein Volk oder ein Körper. Werbung in der Gestalt der Manipulation durch positiv konnotierte Gerüche oder Worte ist kaum von unserem eigenen Willen zu unterscheiden und die präventive Verhinderung von Unruhen lässt es so aussehen als wäre nie jemand unzufrieden gewesen. Aus diesem Grund erweist sich das Regieren im Modus der Prävention als äußerst konfrontationsarm und damit als effizient.

Das gilt auch für die Selbstüberwachung. Wer nicht mehr am Ende des Monats einen Rüffel von der Chef_in bekommt, sondern unmittelbar vom Computer ermahnt oder mit Orden ausgezeichnet wird, der/dem scheint die Arbeitswelt gleich viel harmonischer.

Deshalb ist anzunehmen, dass die Überwachung, ohne die keine Prävention möglich ist, in Zukunft noch ausgeweitet und die Kontrolle sozialer Bewegungen noch mehr ins Netz verlagert werden wird.

All das bedeutet nicht, dass moderne Vernetzungstechnologien nicht auch für emanzipatorische Zwecke genutzt werden könnten. Gerade für eine nichthierarchische Organisierung erweisen sich Soziale Netzwerke oder digitale Kommunikationstechnologien wie Chatrooms als nützliche Werkzeuge.

Wer diese Medien subversiv nutzen will, muss jedoch wissen, dass sie ihren Preis haben. Dieser Preis wird leicht übersehen, weil er meist nicht in Geld, sondern in Daten zu entrichten ist, aber er entfällt so gut wie nie. Oft erweist er sich, gerade wenn es um politische Organisierung geht, als zu hoch. Dann ist es meist sinnvoller ihn in Form der Zeit zu entrichten, die es kostet, sich in die zahlreich vorhandenen nichtkommerziellen Open-Source-Alternativen einzuarbeiten und herauszufinden, wie eine Email verschlüsselt wird, oder welche sozialen Netzwerke nicht als Marktforschungs- und Polizeiarchive fungieren.
Dieser Beitrag erschien erstmals in der graswurzelrevolution 399 mai 2015. Wir danken der Redaktion und Simon Schaupp für die Freigabe zur Zweitverwendung

 

 

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