Die Entscheidung – Kapitaldiktatur oder Souveränität der Menschen (Teil 1)
Die Entscheidung – Kapitaldiktatur oder Souveränität der Menschen (Teil 1)

Die Entscheidung – Kapitaldiktatur oder Souveränität der Menschen (Teil 1)

Vorbemerkung und Einladung zum Diskurs

Es gärt in vielen Ecken der Gesellschaft – so der Titel eines Kommentars von Georg Ismar im Tagesspiegel vom 25.04.2019. In der Subheadline wurde es dann konkreter: „Die Politik findet auf neue Bewegungen wie die Enteignungsdebatte oder „Fridays for Future“ keine adäquate Antwort. Und die Empörung wächst.“ Es wird kaum Zweifel daran geben, dass diese Meinung von einer übergroßen Mehrheit der Menschen in Deutschland geteilt wird. Bleiben die überzeugenden Antworten zu den erwähnten und den anderen, schon länger andauernden weltweiten Krisenthemen aus, kommt es zum freien Fall der bisherigen Ordnung mit dramatischen Folgen für Deutschland, Europa, ja die Welt. Mit der vierteiligen Artikelserie der Gastautoren Heinz Kruse und Gunter Sosna  „Die Entscheidung – Kapitaldiktatur oder Souveränität der Menschen“ möchten wir eine Debatte anstoßen, die überfällig ist. Wir laden ein zum Diskurs und freuen uns auf Kommentare und weitere Artikel, die aus der Sicht der jeweilgen Autorinnen und Autoren beschreiben, wie die politische Krise überwunden und eine demokratische Welt mit den Merkmalen Freiheit – Würde –Teilhabe zu erreichen ist. (Rainer Thiem)

Ein Gastbeitrag von Heinz Kruse und Gunther Sosna

Politische Verantwortungslosigkeit hat den Finanzkapitalismus entfesselt. Namenloses Unheil richtet er an. Es ist zu befürchten, dass grenzenloses Wachstum auch grenzenlose Zerstörung bedeutet. Es reicht aber nicht, das Schicksal und das verantwortungslose Wirken der Politik zu beklagen. Es müssen Wege gefunden werden zur Überwindung einer überholten Politik und des inhumanen Finanzkapitalismus.

In der repräsentativen Demokratie ist der Souverän zum Zuschauer degradiert. Er soll seine Stimme alle vier Jahre abgeben, dann am besten schweigen und sich um die sozialen Trümmerwüsten kümmern, die der Finanzkapitalismus zurücklässt. Dieser ist längst in die Parteien eingesickert. Er verformt Politik und Recht, und versucht, seine zerstörerische Herrschaft demokratisch zu legitimieren. Noch kann der Souverän eingreifen.

Der Verfall und die politische Krise des Westens

Jede Person hat das Recht auf personale Souveränität. Es ist ihr Menschenrecht auf Selbstbestimmung. Diese Souveränität ist der Kern jedes gesellschaftspolitischen Ansatzes. Wer Freiheit und Gerechtigkeit will, muss also mit der personalen Souveränität beginnen. Doch diese ist bedroht. Der entfesselte Finanzkapitalismus greift nach der politischen Herrschaft. Gelingt der Coup, verschmelzen Staat und Kapital zu einem neuen Faschismus, der die personale Souveränität beseitigen wird. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, um die Machtfrage zu stellen.

Die historische Erfahrung lehrt, dass jede Form von Unrechtssystemen mit der Einschränkung des grundlegenden Menschrechts auf Souveränität verbunden ist. Ohne die konstitutionelle Verankerung von Souveränität wird die Gesellschaft keine demokratischen und friedlichen Auswege aus der aktuellen politischen Krise finden. Deshalb stehen wir vor einer Grundentscheidung, die unser Land weit über unsere Generation hinaus prägen wird. Lassen wir es zu, von Politik und Finanzkapital beherrscht zu werden, dann sind Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Krisen bis hin zu Kriegen wahrscheinlich. Wenn wir Frieden und Gerechtigkeit in einer lebenswerten Umwelt wollen, müssen wir handeln. Ein erster Schritt ist die Ausführung unserer personalen Souveränität.

Die Krise wird sichtbarer und ist durch Propaganda nicht mehr zu überspielen

Unsere gegenwärtige Lage und die sich häufenden Krisen haben eine ihrer Ursachen im selbstherrlichen Handeln der Politik und der damit verbundenen Missachtung souveräner Bürgerrechte. Eine feudale politische Machtelite, die sich in den hierarchisch organisierten Parteien abgelagert hat und zur inneren Lähmung führte, trug dazu bei, dass sich nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems Ende der 1980er der Finanzkapitalismus praktisch unkontrolliert entfalten konnte und in der Gegenwart – politisch flankiert – alle Hemmungen verliert.

Mit ihm gibt es weder Frieden in der Welt noch allgemeinen Wohlstand – weder in Deutschland noch in Europa oder sonst wo auf dem Planeten. Im Gegenteil: Die politische, rechtliche und institutionelle Ordnung wird zerstört, das Gemeingut gestohlen, die Menschen um ihre Zukunft betrogen und der Globus geplündert. Die Privatisierung von Wasser, Elektrizität, Schulen, Straßen und Krankenhäusern, der Landraub und die rücksichtslose Rohstoffausbeutung in Lateinamerika und Afrika, die Kriege im Nahen Osten, die grassierende Armut in allen Winkeln und die anwachsenden Flüchtlingsströme sind nur ein paar der offensichtlichsten Folgen ungezügelter Gier.

Der gigantische Reichtum Weniger und das Elend der Vielen sind untrennbar verbunden mit dem Finanzkapitalismus, der sich nun eine demokratische Tarnung anlegt, um aus der Rolle des Brandstifters in die Rolle des Retters zu schlüpfen, dessen zerstörerische Kraft durch den Souverän legitimiert werden soll.

Die politische Führungsschicht stellt sich gegen ihre Bürgerinnen und Bürger

Tausende von Lobbyisten sorgen dafür, dass selbst der letzte Hinterbänkler in den Parlamenten seine Aufgaben haarklein erklärt bekommt. Dass einem Finanzminister ein Goldman-Sachs-Manager als Berater an die Seite gestellt wird, spricht für sich. Die Politik ist zu träge und agiert nicht schnell genug für das Kapital. Zu viele Diskussionen, zu wenig Fachwissen, zu viele Zugeständnisse, zu langatmig sind die Umsetzungsprozesse.

Diese Politik, die in der Kombination mit einer ausufernden Bürokratie und dem repräsentativen System die Wählerinnen und Wähler entmündigt, hat ihre Schuldigkeit getan. Das Kapital will die politischen Zügel selbst in die Hand nehmen. Brüssel hat man praktisch in der Tasche. Etwa 25.000 Lobbyisten, nach Schätzungen von LobbyControl ausgepolstert mit einem Jahresbudget von 1,5 Milliarden Euro, nehmen nicht nur Einfluss auf die EU-Institutionen, sondern bemächtigen sich dadurch der Demokratie.

In Frankreich ist das Vorhaben abgeschlossen. Es wurde befürchtet, aber zu spät realisiert, dass Emmanuel Macron kein Weißer Ritter ist, sondern der Vorbote der neuen politischen Kaste aus dem Dunstkreis der Finanzoligarchie, die aus dem Nichts mithilfe der Retortenpartei En Marche in die politische Landschaft eindrang, die ausgebrannten Sozialisten beerbte und Macron als Staathalter mittels demokratischer Wahl auf dem Präsidententhron installierte. Die Macht des Kapitals wurde so in uneingeschränkte politische Herrschaft verwandelt – die Entrechtung und Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung offenkundig als Ziel und durch Arbeitsmarktreformen vorangetrieben.

Der zunehmende Widerstand der französischen Arbeiter, an deren Seite die Studenten stehen, die anhaltenden Streiks, und eine antikapitalistische Linke, die sich langsam positioniert, zeugen davon, dass Macron als Bluff aufgeflogen ist. Der Souverän erwacht in Frankreich aus der Lethargie – vielleicht zu spät.

Die Rechtsregierung in Österreich, inhaltlich getrimmt auf nationalistische Parolen und rassistische Hetze, versucht umzusetzen, was dem Kapital gefällt: 12-Stunde-Tage, 60-Stunden-Woche, Sozialabbau, mehr Polizei, mehr Überwachung und eine Armee, die den Inlandseinsatz gegen Demonstranten und Streikende trainiert. Denn das Volk muckt auf und die Jugend mobilisiert, da heißt es wachsam bleiben.

Deutschland ist Vorreiter: Hartz IV, Niedriglohnsektor, Zeitarbeit, Befristungen, Privatisierungswelle, Rüstungsirrsinn, Überwachungswahn und nun in Bayern das Polizeiaufgabengesetz, das in seiner Ausgestaltung an die dunkelsten Zeiten des Nationalsozialismus anknüpft.

Auf den Punkt gebracht: Fast alle Regierungen der europäischen Demokratien bringen den Repressionsapparat gegen die Interessen der eigenen Bevölkerung in Stellung. Als Begründung taugen der illegale Flüchtling, der gemeine Moslem, der definitorisch nie erklärte internationale Terrorismus und eine diffuse Bedrohung aus dem Osten, die traditionell im Westen bemüht wird, wenn einem nichts mehr einfällt oder im konkreten Fall die Bedrohung der personalen Souveränität verschleiert werden soll.

Begünstigt wird diese Taktik durch eine Rechte, die Rassismus salonfähig macht und den Nationalismus als Garten Eden verkauft, dessen Tore lediglich für die Schwächsten der Schwachen geschlossen werden müssten.

Aber auch die Linke hat sich beim langen Marsch in die gesellschaftliche Mitte selbst kastriert. Die Sozialdemokratie ist zum sozialen Feigenblatt einer Politik geworden, die den Finanzkapitalismus hofiert. Gemeinsam mit der Linken zeichnen sie sich durch programmatischen Stillstand, innere Zerrissenheit und fehlende Zukunftsfähigkeit aus. Im Ergebnis sind sie bürgerlich verkrustet. Die gesamte politische Administration ist in überholten Denk- und Handlungsmustern verhaftet.

Die Geschichte wiederholt sich

Mit dem Konflikt zwischen den USA und Europa wiederholt sich die Geschichte. Das Bürgertum, das 1914 mit Hurra in den 1. Weltkrieg zog und 1933 in Deutschland den Nationalsozialisten die Weimarer Republik auslieferte, weil es sich nicht mit der Arbeiterklasse identifizieren und verbünden wollte gegen Adolf Hitler und sein Gefolge, rollt heute dem Finanzfaschismus den roten Teppich aus. Angstzitternd flüchtet es sich in Gold, Immobilien und Konten in der Schweiz.

Demütig, mutlos und als Untertanen lassen sie eine Politik agieren, die sich schon längst von der Ordnung des Rechts entfernt hat. Was die bürgerliche Wählerschaft dabei nicht versteht: Weder rechts, links noch in der Mitte sind sie vor diesem Raubtier sicher, dass keinen Krieg auslassen wird, wenn es etwas zu verdienen gibt. Mehr noch, Kriege und Konflikte sind ihm zum Finanzgeschäft schlechthin geworden.

Lebhaft nimmt man am wöchentlichen Spektakel teil, das zwischen Fußball und Eurovision für Ablenkung sorgt. Immerhin wird man davon abgelenkt, dass man selbst zum Ausbeutungsobjekt des Finanzkapitalismus wird. Der lebendige Finanzkapitalismus, der sich anschickt zum Finanzfaschismus zu mutieren, wendet sich auf der Suche nach Verwertbarem bereits dem Bürgertum zu, weil die ökonomisch abgehängten Schichten abgegrast sind. Sie sind nicht mehr zu schröpfen, sondern werden auf ein absolutes Existenzminimum reduziert. Da ist ansonsten nichts mehr zu holen.

Der Staat zieht sich zurück und die Zivilgesellschaft kann sich im Ehrenamt um die Schlacke kümmern. Die ehemals linken Parteien sind in diesem Prozess als soziale Vorhänge gerade gut genug für die Aufräumarbeiten.

Banker, Selbstständige, Angestellte, die untere und mittlere Führungsebene, Lehrer, Dozenten, die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst – sie alle werden nun zum Objekt der Begierde. Ihre kreditfinanzierten Einfamilienhäuser im Grünen, ihre Grundstücke mit Zaun und Gartenzwerg und ihre kleinen Schätze im Bankschließfach, die sie für Reichtum halten: Der Raubtierkapitalismus wird alles auffressen.

Ein mutiger Schritt als Ausweg

So komisch es sich anhören mag: Die sichere Seite gibt es nicht, aber es existiert ein Ausweg, den das Bürgertum und die Abgehängten gemeinsam erzwingen können und im Angesicht der ökologischen Zerstörungen und der wachsenden Kriegsgefahr auch müssen. Wenn der Mensch als Gattung überleben will, muss sich die Art des Wirtschaftens ändern. Dazu braucht es eine Abkehr vom Finanzkapitalismus und eine neue politische und wirtschaftliche Ordnung.

Eine demokratische Welt mit einer lebenswerten Zukunft wird der Bevölkerung nicht geschenkt. Sie muss sie selbst herstellen – mit Mut und Tatkraft. Der erste Schritt ist eine Verfassung vom Volk.

Mit ihr wird die personale Souveränität in eine politische Form gebracht. Ist dieser Schritt vollzogen, können die politischen Maßnahmen angegangen werden, die die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft sichern. Der Weg führt über eine gewaltlose Massenbewegung, die die Machtfrage nicht nur formuliert, sondern politisch stellt!

In einer Demokratie bestimmt der Souverän. Aber die auch im Grundgesetz vorgesehene Rolle des Souveräns hat der Bürger in Deutschland nie wirklich eingenommen. Er verblieb nach dem Untergang der Monarchie und des 3. Reichs in der Objektrolle des Untertanen. In der Deutschen Demokratischen Republik wurde dem „Souverän“ eine Parteiendiktatur gleich direkt vor die Nase gesetzt, und im Westen sorgte die Repräsentative Demokratie, die sich zur Parteienherrschaft mauserte, für „klare Verhältnisse“.

Bei aller Unterschiedlichkeit der politischen Parteien bestand immer Einigkeit darin, die persönliche Souveränität der Menschen darauf zu reduzieren, ihnen einmal in einer Wahlperiode den Gang an die Urnen zu gestatten. Damit diese Pervertierung des demokratischen Gedankens Gemeingut werden konnte, wurden viele Anstrengungen unternommen. Damit stand die eigentliche Entscheidung über die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen nie zur Wahl. Zwischen vorgegebenen Parteien und Themen konnte ein Kreuz gemacht werden, was dann geschah, war den Parteien und den im Hintergrund agierenden Kräften überlassen.

Die politische Administration entwickelte sich zu einer Machttechnokratie, die das Volk in eine Randrolle der Demokratie schicken konnte. Das Modell war so gut austariert, dass sich auch die ehemals systemkritischen Parteien mehr und mehr diesem Grundmodell anpassten. Die sozialfeindlichen Hartz-IV-Regulierungen waren insofern kein Ausrutscher eines Kanzlers Schröder, sondern die logische Folge einer langfristig absehbaren Entwicklung.

Die Gruppierungen in den Parteien steckten ihre Einflusszonen ab. Politische Schwerpunkte schwankten quotal nach Wahlergebnissen. Auch dies war prognostizierbar. So konnte der Philosoph Karl Jaspers schon in den sechziger Jahren zuverlässig die politische Entwicklung zur Diktatur einer Parteienoligarchie aus den damals schon bestehenden Machtstrukturen erkennen und beschreiben.

Als der Soziologe Danilo Zolo in den 1990er Jahren sein Buch „Die demokratische Fürstenherrschaft“ veröffentlichte, nahm er vorweg, was heute Alltagswissen ist:

Die Parteien entmündigen die Wähler.

Sie haben es geschafft, das Menschenrecht auf Souveränität in eine formale und somit inhaltsleere Hülle zu verwandeln. Die Parteiführungen befehlen und die Fraktionen folgen. Und das Volk steht als staunender, erschrockener Zaungast am Rande des Geschehens. Die Lage zeigt: Maßgeblich für die derzeitige politische Form des Staates ist nicht der Souverän, sondern die wirtschaftlichen und politischen Machtstrukturen.

PEIRA bedankt sich bei Heinz Kruse und Gunther für die Zustimmung zur Zweitverwendung Ihres Artikels „Die Entscheidung – Kapitaldiktatur oder Souveränität der Menschen (Teil 1)“, der erstmals am 27. Mai 2018 beiNEUE DEBATTE Journalismus und Wissenschaft von unten erschien. Teil 2, 3, 4 wurden ebenfalls in 2018 veröffentlicht.

Ausblick

Teil 2 – Die Verfassung vom Volk als politischer Befreiungsschlag

Teil 3 – Die gewaltlose Massenbewegung und die politische Machtfrage

Teil 4 – Die politische Bürgerbewegung und Regionalkonferenzen als Ausgangspunkt echter Demokratie

Ein Kommentar

  1. Klaus Herberger

    Hallo,
    großartig zu lesen, ihr sprecht mir aus meinem Herzen! Ganz klar benötigt eine Gesellschaft Rahmenbedingungen . Die hier beschriebene Parteiendiktatur mit ihren Spielfiguren für die internationalen Industriemagnaten, darf nicht weiter bleiben, dieser Ansicht bin ich auch schon lange.

    VG aus Leipzig

    Klaus Herberger

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